Die Gabe der Patricia Vanhelsing - 5 Patricia Vanhelsing-Romane (Sonderband) (German Edition)
Zeitverschwendung war.
Aber ich hatte ein anderes Gefühl.
Ich hatte da so eine Ahnung. Nichts Greifbares, nur ein unbestimmtes Gefühl, daß ich dieser Frau unbedingt zuhören mußte...
Es war nicht näher zu erklären, aber ich hatte mir inzwischen angewöhnt, meine Ahnungen ernst zu nehmen.
"Satan!" flüsterte sie. "Es muß der Teufel gewesen sein... Mein Gott, ich habe nie zuvor etwas Derartiges gesehen, Miss Vanhelsing! Nie... Und ich bin auch nie besonders gläubig gewesen, aber..."
"Beschreiben Sie es mir!" verlangte ich. Der Schrecken stand ihr noch immer buchstäblich ins Gesicht geschrieben.
"Da war dieser Wagen. Ein Leichenwagen..."
"Den haben offenbar noch mehr Zeugen gesehen!"
"Ja, ja! Ein ganz alter Wagen war das! Und dann hielt er an. Plötzlich schoß schwarzes Licht aus ihm heraus und hat diesen Mann völlig eingehüllt..."
"Den Mann, der anschließend überfahren wurde!"
"Ja. Das ging nicht mit rechten Dingen zu! Ganz bestimmt nicht! Ich habe so etwas noch nie gesehen! Sie müssen darüber schreiben..."
Sie sah mich an.
Und plötzlich sah ich vor meinem inneren Auge den Leichenwagen, von dem sie gesprochen hatte. Jede Einzelheit konnte ich wahrnehmen, so als hätte der Wagen in diesem Augenblick vor mir gestanden. Von geradezu unglaublicher Intensität waren diese Bilder aus meinem Inneren, und ich wußte sofort, daß es sich um eine meiner Tagtraumvisionen handelte, in denen ich für wenige Augenblicke die engen Grenzen von Raum und Zeit zu überschreiten vermochte. Niemand saß am Steuer dieses altertümlichen Leichenwagens. Ich sah, wie in der Fahrerkabine sich eine Art dunkles Gas ausbreitete. Wie schwerer Rauch. Und dann sah die schwarzen Strahlen, die durch die Fontscheibe schossen...
Für einen Augenblick schienen mir die Sinne zu schwinden. Sekundenlang konnte ich nichts sehen.
Dunkelheit umhüllte mich und ich hatte das Gefühl, zu taumeln.
"Patricia!"
Von sehr weit her drang Jim Fields Stimme in mein Bewußtsein.
Einen Moment später wurde es wieder hell vor meinen Augen.
"Was ist los mit dir, Patti?"
"Ich weiß es nicht", sagte ich, obwohl ich es ganz genau wußte. Aber Jim gegenüber hatte ich nie von meiner übersinnlichen Begabung gesprochen. Und daran wollte ich auch vorerst nichts ändern.
Ich atmete tief durch.
Mit einer fahrigen Handbewegung fuhr ich mir über das Gesicht.
"Schreiben Sie darüber!" beschwor mich die alte Dame abermals. "Sie müssen es tun!"
Ich schaute sie an.
"Das werde ich!" versprach ich ihr. "Ganz bestimmt."
*
"Du glaubst doch nicht, daß an dem Gerede alten Frau etwas dran ist?" fragte Jim Field mich, als wir bereits wieder auf dem Weg zurück in die Redaktion waren.
"Das wird sich herausstellen, Jim!"
"Patti!"
"Haben wir nicht beide bereits Dinge erlebt, die sich mit den Methoden der herkömmlichen Wissenschaft nicht erklären lassen, Jim?" Gemeinsam waren wir wiederholt Zeuge übersinnlicher Phänomene geworden. Und doch blieb Jim diesem Thema gegenüber grundsätzlich skeptisch eingestellt.
"Mag sein", räumte er ein. "Aber ich bin immer dafür, zunächst das Nächstliegendste anzunehmen..."
"Und das wäre in diesem Fall, daß diese Frau nicht mehr alle Tassen im Schrank hat..."
"Findest du nicht?"
Ich seufzte. "Auf jeden Fall werde ich versuchen, an der Geschichte dranzubleiben."
"Sofern unser allgewaltiger Chefredakteur nichts dagegen hat!" schränkte Jim ein.
"Das wird er schon nicht."
"Ach nein? Sag bloß, du kannst die Gedanken von Michael T. Swann lesen?"
Ich schüttelte den Kopf. "Das nun nicht gerade... Aber er hat den Instinkt eines guten Reporters und wird erkennen, daß
das eine vielversprechende Story ist..."
Jim zuckte die Achseln.
"Du mußt es ja wissen!"
"Ganz bestimmt!"
Wir erreichten eine rote Ampel, und ich schloß für einen kurzen Moment die Augen. Ich erinnerte mich an die Vision, die ich am Trafalgar Square gehabt hatte und allein diese Erinnerung verursachte eine leichte Gänsehaut auf meinen Unterarmen. Diese alte Dame hat recht! ging es mir durch den Kopf.
"Du wirkst etwas abgespannt, Patricia!" hörte ich Jims Stimme neben mir. "Soll ich fahren?"
"Die Plätze tauschen? Mitten auf der Kreuzung?"
"Nun..."
"Es ist schon alles in Ordnung, Jim."
"Ganz bestimmt?"
"Ja."
Wir quälten uns durch den zähflüssigen Londoner Verkehr, bis wir schließlich die Lupus Street erreichten, wo der Verlag der LONDON EXPRESS NEWS seinen Sitz hatte. Das Verlagsgebäude war ein riesiger Hochhauskomplex.
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