Die Gabe des Commissario Ricciardi
Nähe schwor ein junger Mann einer Kundin bei der Jungfrau Maria, er zahle bei dem Preis, zu dem er ihr eine Tüte Muscheln verkaufte, noch drauf: Glauben Sie mir, Signora, das sind keine einfachen Muscheln, das ist pure Meeresfrische, die zu Ihnen auf den Tisch kommt.
Ricciardi dachte an die Profile der beiden Verdächtigen und daran, dass sie nicht so recht zu den Ermittlungsergebnissen passten: Lomunno verfügte über ausreichend Kraft, Gründe und Wut, um eine so grausame Tat zu begehen, und auch über genügend Bildung, um mit der Zerstörung des heiligen Josefs zu zeigen, dass es Todsünde war, einem Familienvater die Arbeit zu stehlen. Doch er war allein, während es aussah, als seien bei dem Mord zwei Hände im Spiel gewesen, und seine Rache wäre nicht nur für Garofalo, sondern auch für seine Kinder tödlich gewesen. Außerdem schien er Ricciardi nicht der Typ dafür zu sein, den Denunzianten, der sein Leben ruiniert hatte, in seiner Wohnung umzubringen und dabei auch die Ehefrau zu töten. Wahrscheinlich hätte er ihm anderswo aufgelauert, um sein Vorhaben bequemer in die Tat umzusetzen.
Die Boccias hatten ein noch triftigeres Motiv: das Leben ihres Sohnes. Und sie waren schon einmal bei den Garofalos gewesen, man hatte sie aus dem Haus gehen sehen. Sie kannten also die Gewohnheiten des Pförtners und hätten sich erneut
hineinschleichen können. Außerdem waren sie zu zweit, und um die Tat zu begehen, hätten sie gezwungenermaßen auch die Frau kaltmachen müssen. Aber Ricciardi konnte sich nicht vorstellen, dass sie auf einen bereits toten Körper noch so viele Male eingestochen haben sollten. Sie waren sicher auch nicht in der Lage, dem heiligen Josef eine symbolische Bedeutung zu verleihen, und würden sich nicht länger als nötig am Tatort aufhalten, um diese Art von Zeichen zu hinterlassen.
Der Kommissar hielt kurz auf dem Bürgersteig inne, soweit das inmitten der drängelnden Menschenmenge möglich war. Wieder einmal wurde ihm bewusst, dass an beiden Hypothesen irgendetwas nicht aufging, er aber keine weiteren hatte.
Dann entwischte aus einer Kiste nur wenige Meter vor ihm plötzlich ein fetter Aal.
Und wie durch ein Wunder nahm jedes Puzzlestück seinen Platz ein.
LII
Ist der Fisch die wichtigste Zutat für das Weihnachtsmahl, so ist der Aal ganz sicher der Höhepunkt des Festessens.
Das dicke Tier mit dem vorstehenden Kiefer, fett und glitschig, in ständiger Bewegung, das durch die Folie, in die es eingewickelt wird, auf dem Nachhauseweg wie betäubt ist, erwacht zu neuem Leben, sobald man es zum Waschen ins Wasser wirft: Wie eine Schlange bewegt es sich unter den entsetzten und faszinierten Blicken der Kinder, die der blutigen Zubereitung zuschauen und sie nie mehr vergessen werden. Die abgeschnittenen Stücke züngeln nämlich weiter im Blut, als hätten sie ein Eigenleben, als wäre das Tier in der Lage, den Tod
zu besiegen, so lange, bis sie in Mehl paniert in der Pfanne landen, um dann, von Lorbeerblättern umgeben, das Hauptgericht am Weihnachtsabend zu bilden.
In der Via Santa Brigida wurden die Wannen mit den Aalen buchstäblich gestürmt, je später es wurde und je näher der Zeitpunkt rückte, nach Hause zu gehen. Einer der eifrigsten Verkäufer, ein schöner braunhaariger Jüngling mit einnehmendem Lächeln und tiefer Stimme, zog die Aufmerksamkeit der Frauen auf sich, indem er mehrere Aale in die Hand nahm und in dem vor ihm stehenden Becken wühlte. Laut rief er:
– Tot und lebendig, waschechte Aale, wie die Schwänze des Teufels!
Dieser symbolträchtige Satz, der Verweis auf die Teufelsschwänze, auf den Tod und das Leben, ließ den Kommissar aufhorchen. Er ging näher heran. Dabei verlor er jedoch Maione, der immer noch die Boccias beobachtete, deren Geschäfte gut zu laufen schienen.
Als Ricciardi sich bei der Wanne mit den Aalen befand, machte ein großes, dickes Tier auf dem Weg von der Waage zur Tüte plötzlich einen Satz und flog auf die Straße.
Die junge Frau, die den Aal gekauft hatte, sah dem fliegenden Tier hinterher, ebenso überrascht wie der Fischverkäufer von der wiederauflebenden Vitalität des Fisches, der zwischen den Füßen eines gerade vorübergehenden Paares landete. Der Mann bemerkte ihn zuerst, sprang zur Seite und stieß auf diese Weise ein kleines Kind um, das an der Hand seiner Mutter lief, während die Frau einen Schrei ausstieß und, nachdem sie mit beiden Händen ihren Rock gerafft hatte, so etwas wie einen Beschwörungstanz um das
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