Die Gabe des Commissario Ricciardi
Blumen, grüne Algen, Muschelschalen und bunte Steine verstärkten den Eindruck, das Meer sei an Weihnachten zu Besuch in die Stadt gekommen.
Auch der Duft des Meeres lag deutlich in der Luft: Es verströmten ihn sowohl die Pflanzen als auch die reichlich vorhandene Tierwelt, doch auch das Salzwasser, mit dem die Ware kontinuierlich benetzt wurde, um sie noch frischer wirken zu lassen, und vor allem die dunklen, rauen, von der Sonne verbrannten und vom Wind gegerbten Gesichter der Fischer mit ihren hochgekrempelten Hosen und muskulösen Schenkeln, den nach hinten geschobenen, schlaff auf den Schultern aufliegenden Hüten. Stets bereit, ihre zahnlosen Münder zu einem einladenden Lächeln zu öffnen, die Jacke über die Schulter geworfen und die Waage in der Hand, blickten sie den Käufern herausfordernd entgegen: Da könnt ihr lange suchen, um bessere Ware als meine zu finden.
Der Lärm war ohrenbetäubend. Zu dem konstanten Stimmengewirr der riesigen Menschenmenge, die sich auf der Suche nach günstigen Angeboten durch die Straße drängte, kamen noch die Rufe der sich gegenseitig im Anpreisen ihrer Ware überbietenden Verkäufer.
Fisch, das wusste jeder, musste frisch gekauft werden, und kein Festessen kam ohne ihn aus. Innerhalb weniger Stunden fand also an nur dieser einen Stelle der verzweifelte Wettstreit der neapolitanischen Fischer um Weihnachten statt. Aus diesem Grund waren alle eingespannt: Frauen, Kinder und sogar Verwandte, die sich normalerweise um anderes kümmerten. Es wurden Tagelöhner eingestellt in der Hoffnung, genug zu verdienen, um sie später angemessen bezahlen zu können.
Die beiden Polizisten ließen das ganze Treiben schweigend an sich vorüberziehen, ihren eigenen Gedanken nachhängend. Der Kommissar fragte sich besorgt, woher das Zittern von Rosas Hand kam; er nahm sich vor, mit Doktor Modo darüber zu
sprechen, und bedauerte es, sie in ihrem Zustand allein gelassen zu haben. Zur Not würde er sie dazu zwingen, Hilfe anzunehmen. In ihrem Alter war das, was sie sich auflud, einfach zu viel.
Unerklärlicherweise trugen seine Gedanken ihn zu Enrica, zu ihrer ruhigen, besonnenen Art, das Leben anzugehen. Wie gerne hätte er sich mit ihr beraten. Doch dann fiel ihm wieder ein, dass es nach wie vor unmöglich war, sie tatsächlich an seinem Leben teilhaben zu lassen, und das entmutigte ihn.
Livia war anders. Sie war sich seiner plötzlichen Anwandlungen von Traurigkeit und auch der Folgen seiner Einsamkeit bewusst und schien trotzdem entschlossen, diese Bürde auf sich zu nehmen. Wer weiß, dachte Ricciardi: Vielleicht ist es ja auch legitim, dass jeder sich das Leben wählt, das ihm gefällt.
In Maiones Kopf herrschte schon wieder großes Durcheinander. Sein Gespräch mit Lucia im Park hatte ihn aufgerieben.
Es gibt keinen Ehrenkodex, es geht nicht darum, Urteile zu erlassen und zu vollstrecken, hatte seine Frau ihm sagen wollen. Es gab nur ein Leben, das gelebt werden musste, und fünf Kinder, die es großzuziehen galt. Jede Tat hatte Folgen, dessen sollte man sich ständig bewusst sein.
Der Brigadiere hätte erleichtert sein müssen und war es auch in mancher Hinsicht. Andererseits fragte er sich immer wieder, ob er das Richtige getan hatte und ob er mit der Vorstellung leben konnte, dass ein Mörder, sei es nun der Mörder seines Sohnes oder anderer Menschen, friedlich weiterlebte, ohne seine gerechte Strafe zu verbüßen.
Aber konnte es denn nicht sein, überlegte Maione, dass genau das die Strafe war? Mit einem nie endenden Schuldgefühl
zu leben? Und mit der Trauer um einen Bruder, der im Gefängnis unter anderem wegen etwas gestorben war, das man selbst begangen hatte?
Aus Biagios Blick hatte er am Morgen im Park eine tiefe Schwermut herausgelesen. Die Feiertage waren, wie er sehr gut wusste, eng mit der Familie und mit Kindheitserinnerungen verknüpft. Wäre der Mann auch weiterhin ein Verbrecher geblieben, hätte der Brigadiere ihn, ohne zu zögern, verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Doch sein jetzt ehrliches Leben wog viele Jahre im Gefängnis auf und sprach dafür, dass er um keinen Preis wieder straffällig werden wollte.
Insgeheim wusste Maione, dass er Biagio Candelas Leben aus der Ferne weiter beobachten würde, es nicht zulassen würde, dass durch ihn jemand anderem Schlimmes widerfuhr. Diese Pflicht übernahm er gerne – als Vater und als Polizist. Er würde zu Franco Massa gehen und mit ihm reden, ihn davon überzeugen, seine Entscheidung, die vielmehr noch
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