Die Gabe des Commissario Ricciardi
wurde in einen Raum im Erdgeschoss gebeten, den er bei seinen früheren Besuchen nicht gesehen hatte. Mittlerweile war es Abend geworden, und die Luft kühlte immer weiter ab.
Zuerst sah er niemanden. Das Zimmer war nicht sehr hell beleuchtet; ein paar tief hängende Lampen sandten ein gelbliches Licht aus, das die Ecken im Dunkeln ließ. In der Mitte stand, den Raum beherrschend, eine der größten Krippen, die Ricciardi je gesehen hatte: eine regelrechte Miniaturstadt, die vom Hügel her zu einem dicht bevölkerten Viertel abfiel, dessen Zentrum eine großzügige, von einer Reihe versteckter Lämpchen beleuchtete Grotte mit der Heiligen Familie bildete.
Obwohl er mit seinen Gedanken beschäftigt war, beeindruckte Ricciardi die aufgebaute Landschaft: Die Fenster ferner Häuser leuchteten im Dunkeln, es gab Schafherden, Rinder auf der Weide, Hirten und Bauern, die auf den am weitesten entfernten Feldern umherirrten; auf der mittleren Ebene befanden sich Gasthöfe, Wirtshäuser und allerlei Geschäfte mit ausgestellten Waren, vor denen Kaufleute und Kunden ganz offensichtlich im Gespräch miteinander waren; ganz vorne waren Engel, die Heiligen Drei Könige und andere Personen zu sehen, die das Jesuskind anbeteten. Die Figuren waren antik und außergewöhnlich schön. Ricciardi war zwar kein Kenner, doch diese Krippe musste seiner Ansicht nach ausgesprochen wertvoll sein. Es musste sehr viel Zeit und Mühe gekostet haben, sie zu bauen.
Während er das Kunstwerk noch mit offenem Mund bestaunte, ließ eine Stimme, so quietschend wie über eine Tafel kratzende Kreide, ihn aufschrecken:
– Unsere Krippe ist in der ganzen Stadt berühmt, Commissario.
Schwester Veronica tauchte ganz plötzlich auf, lächelnd und mit verschwitztem rotem Gesicht.
– Manche Hirten stammen noch aus dem 18. Jahrhundert und jedes Jahr erhalten wir Schenkungen von Gläubigen aus der Umgebung. Unsere Aufgabe ist es dann, die Krippe zu ergänzen und zu erweitern. Das heißt, eigentlich meine Aufgabe: Seit sieben Jahren kümmere ich mich nun schon darum.
Ricciardi trat zu der Nonne, um sie zu begrüßen. Sie streckte ihm ihre kleine Hand hin, die wie üblich kalt und feucht war. Der Polizist ließ seinen Blick weiter über die Miniaturlandschaft schweifen.
– Wirklich beeindruckend. Machen Sie das alles allein, Schwester?
Die Frau betrachtete zufrieden das Ergebnis ihrer Mühen:
– Dieses Zimmer ist nur für die Krippe da, es bleibt das ganze Jahr über geschlossen bis zu Mariä Empfängnis. Die Landschaft lassen wir stehen, nur die Figuren werden nach dem Dreikönigstag weggenommen und vorsichtig in Schachteln verpackt – einige Stücke sind sehr wertvoll, müssen Sie wissen. Meine Arbeit besteht darin, die einzelnen Teile anzuordnen und jedes Jahr etwas hinzuzufügen, damit die Kinder und die anderen Ordensschwestern am 8. Dezember, wenn die Tür geöffnet wird und sie die Krippe anschauen kommen, stets eine kleine Überraschung erleben.
– Und was ist in diesem Jahr neu?
Die Nonne freute sich außerordentlich über Ricciardis Interesse:
– Ich arbeite weiter daran bis Heiligabend, auch wenn die anderen schon reindürfen. Dieses Jahr habe ich einen Hügel angefügt; dazu habe ich das Werkzeug und Material benutzt, das
Sie dort auf der Bank sehen. Ich habe hier und da Schafe darauf verteilt und drei Häuser aufgestellt, die von zwei Lämpchen beleuchtet werden, sehen Sie? Ich bin noch nicht ganz fertig. Das Moos fehlt noch, aber dann haben wir's fast.
Wie sie so auf den Zehenspitzen herumhüpfte und Ricciardi die Stellen zeigte, von denen sie sprach, wirkte Schwester Veronica wie ein Kind. Ihre ohnehin schrille Stimme war noch höher geworden, was den Eindruck verstärkte. Plötzlich hielt sie inne und fasste sich wieder. Sie schien sich bewusst zu werden, wer ihr Gesprächspartner war.
– Verzeihen Sie, Commissario. Wenn's um die Krippe geht, gerate ich ein wenig aus der Fassung. Ich mag sie nämlich wirklich unheimlich gern: Sie ist der Sieg des Glaubens im Alltagsleben. Die Symbole für das, an was wir glauben, vermengen sich mit dem, was um uns herum passiert. Und die Kinder begreifen dadurch, dass Gott, die Madonna und die Heiligen uns immer sehen, egal was wir tun, und dass wir uns gemäß ihrem Willen betragen müssen, auch wenn wir uns unbeobachtet glauben.
Ricciardi hörte ihr zu, die Hände in den Manteltaschen vergraben, den Blick fest auf das Gesicht der kleinen Nonne gerichtet. Er spürte noch die schweißfeuchten
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