Die Gabe des Commissario Ricciardi
atmete tief ein. Er hatte den Eindruck zu träumen. Biagios Söhnchen krabbelte zu seinem Vater, setzte sich neben ihn und schob ihm seine kleine Hand hinter den Rücken. Der Mann bewegte sich nicht. Lucia sprach weiter:
– Die Liebe meines Sohnes. Die Liebe meines Mannes. Das bin ich, Raffaele, nicht mehr und nicht weniger.
Sie drehte sich zu Maione um, und ihre Augen erschienen ihm wie ein Fenster, durch das man im Sommer aufs Meer sieht.
– Es ist Weihnachten, Raffaele. An Weihnachten hat Luca uns immer einen Brief geschrieben, erinnerst du dich? Er hat ihn unter deine Serviette gelegt, und du hast überrascht getan, wie du's jetzt mit den Briefen der anderen Kinder tust. Erinnerst du dich noch, was er uns in seinen Briefen geschrieben hat? Ich hab' sie alle aufgehoben. Er hat uns darin gesagt, dass er ein guter Mensch sein wollte, so wie sein Vater.
Maione glaubte zu sterben, dort auf einer eiskalten Bank in der Villa Nazionale, nur wenige Meter vom Meer entfernt. Vor lauter Trauer zu sterben.
– Es ist Weihnachten, Raffaele. Luca kommt zu Weihnachten nicht zu uns zurück. Ich lege ein Gedeck für ihn auf, wie ich es immer tue, einen Teller und Besteck. Aber er kommt nicht zurück. Und wird nie mehr wiederkommen. Und ausgerechnet jetzt, wo er in der Welt der Wahrheit lebt, willst du ihm sagen, dass du bereit bist, so etwas Furchtbares zu tun? Einer Frau und zwei unschuldigen Kindern den Familienvater wegzunehmen? Ganz gleich, ob es um unsere eigenen Kinder oder
die Kinder der anderen geht: Es bleiben doch immer Kinder.
Der Brigadiere sah seine Frau unsicher an:
– Was soll ich tun, Lucia? Was soll ich denn jetzt tun?
Aus den Ärmeln des Mantels kam eine Hand hervor, eine blasse, schmale Hand. Sie hob sich zu Raffaeles Gesicht und streichelte es, eine Träne trocknend, die er, ohne es zu merken, geweint hatte.
– Ich sag' dir, was wir tun werden. Es ist Weihnachten. Wir werden aufstehen und weggehen. Ich muss noch das Essen für heute Abend kochen, und du musst weiterarbeiten. Und dann werden wir feiern, weil Weihnachten ist und wir fünf Kinder haben, die eine fröhliche Mutter und einen rechtschaffenen Vater brauchen, denen sie ihr Briefchen schreiben können.
Vor ihnen war das Mädchen eingeschlafen und der Vater hatte den Kleinen auf den Arm genommen. Er hing immer noch mit leerem Blick den Gespenstern seines Gewissens nach.
Lucia stand auf, nahm ihren Mann bei der Hand und bewegte sich auf den Ausgang des Parks zu, während das Orchester weiterspielte. Über dem unbewegten Meer waren ganz wenige Sonnenstrahlen und viele schwarze Wolken zu sehen.
Die Stadt über ihnen, die an dem Hügel emporkletterte, knipste nach und nach ihre Lichter an. Sie glich einer riesigen Krippe.
LI
Kaum waren Ricciardi und Maione in die Via Santa Brigida eingebogen, da fiel Weihnachten auch schon lautstark über sie her. Am 23. Dezember verwandelte sich eine der geschichtsträchtigsten Straßen der Stadt, die von den ehe
maligen Quartieren des aragonischen Heers zum Hafen führte, traditionell in einen großen Markt unter freiem Himmel, auf dem die wichtigste Zutat für ein neapolitanisches Festmahl verkauft wurde: erstklassiger Fisch.
Dutzende blau angemalte Holzkisten waren wie jedes Jahr auf den Bürgersteigen aufgestellt worden: Ihre Farbe stand für das Meer und die Frische des Produkts, und die Behälter waren außerdem mit Fischernetzen, Seeigeln, Algen und sogar mit Seepferdchen dekoriert. Innendrin schwammen, in 20 Zentimeter hohem, stets nachgefülltem Meerwasser, sehr flink die unterschiedlichsten Fische umher: Aale, Sardellen und allerlei sonstiges frisch Gefangenes.
Die kurze, breite Straße eignete sich perfekt zur Ausstellung der Ware und als Promenade für die stark umworbenen Kunden. Die Fischverkäufer hatten ihre Tische so aufgebaut, dass sie hinten höher standen und zur Straße hin schräg abfielen, damit alles bestens gesehen werden konnte. In Reih und Glied standen darauf flache, aus Binsen geflochtene Körbe, in denen es nur so wimmelte von nach Luft schnappenden Meeräschen und Rotbarben, von Miesmuscheln und Tellmuscheln, Venusmuscheln und Langusten, deren Zangen mit Bindfäden zusammengebunden und deren Fühler unablässig in Bewegung waren.
Beleuchtet wurden die Auslagen von Gaslampen, die ein fast grelles Licht in den immer dunkler werdenden Nachmittag aussandten. Und um die Ware herum erfreute eine noch in der Nacht mühsam von den Frauen zusammengestellte Dekoration das Auge:
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