Die Gabe des Commissario Ricciardi
Leben zu beobachten, wohl wissend, dass er anders nicht daran teilhaben konnte. Aus einem einmaligen Briefwechsel hatte er erfahren, dass sie von seinen Blicken wusste. Er erinnerte sich noch gut, wie lange er gezögert hatte, wie schwer es ihm gefallen war, ihr zu schreiben. Viel Zeit und viel Mühe hatten die wenigen förmlichen Zeilen gekostet, in denen er um die Erlaubnis bat, sie von Weitem grüßen zu dürfen. In ihrer ruhigen,
besonnenen Antwort teilte sie ihm mit, sie werde seinen Gruß gerne annehmen, sehr gerne sogar.
Alles war auf dem besten Weg zu einer Annäherung, einer Freundschaft. Dann passierte der Unfall und er lag im Krankenhaus. In diesen Tagen gab es weder Besuche noch Briefe. Und nach seiner Rückkehr waren die Fensterläden geschlossen.
Während im Radio auf den Tango ein melancholischer Walzer folgte, dachte Ricciardi wieder an die Garofalos und an das Blut, das in der Wohnung am Meer vergossen worden war. Das Leben konnte so schnell zu Ende sein, zu schnell, um Gefühle einfach so zu vergeuden. Er dachte an sich selbst, an seinen Weg entlang der Grenze zwischen Leben und Tod, ohne dass er an einem von beiden wirklich teilnehmen würde, und an sein Dasein zwischen tiefem Schweigen und ohrenbetäubendem Lärm.
Er sah auf zu den dunklen Fenstern im dritten Stock von Enricas Wohnhaus. Hinter einem von ihnen sah er deutlich, durchscheinend und schaukelnd wie immer, die erhängte Braut.
Ein ungewöhnlicher Fall unter seinen Visionen. Das Bild der Frau erschien und verschwand, in regelmäßigen Abständen suchte sie die Wohnung heim, in der sie ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte. Als ob ihre letzte Gefühlsregung vom Wind herbeigetragen würde, um dann erneut ins Dunkel gerissen zu werden, in Erwartung einer Wiederkehr. Ganz deutlich sah er sie in der kalten Dezembernacht: ihren durch die ausgerenkten Wirbel langgezogenen Hals, die hervortretenden Augen, die heraushängende schwarze Zunge, den nach Luft schnappenden, weit aufgerissenen Mund. Mit heiserer, schneidender Stimme schimpfte sie: Verfluchte Hure, du hast mir meine Liebe
und mein Leben genommen . Ein Treuebruch, eine Trennung, die Unfähigkeit, in der Einsamkeit zu überleben.
Ricciardi kehrte beiden Fenstern den Rücken zu, der lebendigen Frau, die sich nicht sehen ließ, und der Toten, die sich den Augen seiner Seele in all ihrem Schmerz zeigte. Er ging zum Schreibtisch, setzte sich und nahm ein Blatt Papier zur Hand. Er würde ihr schreiben, und zwar diesmal ohne die Hilfe des Ratgebers für den modernen Liebesbrief , ohne Musterworte und vorformulierte Sätze. Er würde schreiben, um ihr von sich zu erzählen, sie an seinem Leben teilhaben zu lassen.
Liebe Enrica,
seit ich aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen bin, verwehren Sie mir Ihren Anblick. Ich weiß, dass Sie von meinem Unfall erfahren haben, Rosa sagte mir, dass Sie bei ihr waren in den ersten, dramatischen Momenten, als Sie noch nicht wussten, dass ich überleben würde. Mir geht es gut, falls es Sie interessieren sollte, ich hatte nicht viel mehr als eine Schramme am Kopf und ein Schwindelgefühl. Aber es geht mir gut.
Die geschlossenen Fensterläden und Ihr Schweigen kann ich Ihnen nicht vorwerfen. Sie haben recht: Eine junge Frau hat Hoffnungen, Ambitionen, Wünsche. Eine junge Frau möchte umworben werden, ins Lichtspielhaus oder zum Tanzen ausgeführt werden. Eine junge Frau möchte einen Verlobten, den sie ihren Eltern vorstellen und sonntags zum Essen einladen kann. Eine junge Frau würde gerne geliebt werden.
Ich liebe Sie, Enrica. Dessen dürfen Sie sich sicher sein. Falls Liebe aus Herzklopfen, freudiger Erwartung und süßem Schmerz besteht, so liebe ich Sie. In Gedanken und im Herzen bin ich stets bei Ihnen.
Doch die Liebe ist ein Luxus, den ich mir nicht erlauben kann. Ich wurde nicht geboren, um Gefühle zu empfinden, nach Glück zu streben. Ich bin zum Unglück verdammt.
Ich sehe die Toten. An jeder Straßenecke, jedem Fenster sehe ich Tote. Ich sehe sie, wie sie einen gewaltsamen Tod gestorben sind, mit zerfetzten Körpern, offenen Wunden, herausstehenden Knochen, blutüberströmt. Ich sehe die Selbstmörder, die Ermordeten, die Überfahrenen, die Ertrunkenen. Ich sehe sie nicht nur, sondern höre sie auch obsessiv den letzten stumpfsinnigen Gedanken ihres ausgelöschten Lebens wiederholen. Ich sehe sie, bis sie sich in Luft auflösen, um einen Frieden zu finden, von dem ich nicht weiß, ob und wo es ihn gibt. Ich spüre ihren unsäglichen
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