Die Gabe des Commissario Ricciardi
Schmerz, die Liebe für immer loszulassen.
Ich bin verdammt. Ich trage mein Mal schon seit meiner Kindheit und habe Anlass zu glauben, dass meine Mutter unter derselben furchtbaren Krankheit litt. Sie war wahnsinnig, als sie starb.
Ich liebe Sie, Enrica. Wenn Liebe bedeutet, für den geliebten Menschen das Beste zu wollen, wie kann ich Ihnen dann meine Last aufbürden? Wie könnte ich Ihnen auferlegen, Ihr Leben mit jemandem zu teilen, der zwischen Toten spaziert? Sie müssen dieses Elend nicht sehen, Sie können glücklich sein und lächeln an einem Ort, an dem ich, nur ein paar Schritte weiter, heulende Leichen sehe – möchten Sie dazu verdammt sein, einen Mann wie mich an Ihrer Seite zu haben?
Ich liebe Sie, Enrica. Und würde mir nichts auf der Welt sehnlicher wünschen, als Sie in den Armen zu halten, über Ihre Träume zu wachen, Ihr Lächeln zu küssen. Gerade weil ich Sie liebe, muss ich mich von Ihnen fernhalten. Bitte glauben Sie
mir, dass es mich mehr schmerzt, mich zu einem Leben ohne Sie zu verurteilen, als in ebendiesem Augenblick den Geist einer erhängten Frau sehen zu müssen, die nach ihrer verlorenen Liebe ruft.
Ihr geschlossenes Fenster zerreißt mir das Herz; aber ich bin froh, weil es Sie vor mir schützt.
Ich liebe Sie, Enrica. Und werde Sie immer lieben im Innersten meiner Seele.
Ein Windstoß rüttelte an den Fensterscheiben.
Den Blick ins Leere gerichtet, nahm Ricciardi das von ihm beschriebene Blatt Papier und riss es in tausend Stücke. Dann stand er auf, öffnete das Fenster und streute die Schnipsel in die eiskalte Nacht.
VIII
Der Morgen des Samstags vor Weihnachten war etwas Besonderes. Hunderte von Ständen, an denen alles Mögliche verkauft wurde, drängten sich auf den Bürgersteigen der eleganten Straßen, sodass kaum noch Platz blieb für Spaziergänger, die potenziellen Kunden also. Es gab chinesische Vasen, Kriegsüberbleibsel wie Ferngläser oder Fernrohre, Militärstiefel und Bajonette, Tücher und Hüte. Die Verkäufer priesen schreiend ihre Waren an und versuchten, das Brausen des Meeres zu übertönen.
Maione und Ricciardi liefen gegen den eisigen Wind durch die Via Santa Maria in Portico. Wo immer sie vorbeikamen, rückten Bettler und Händler beim Anblick der Uniform des Brigadiere zur Seite, wandten den Blick ab und senkten die Stimme. Es war, als würde ein schwarzer Flügel den Markt durchqueren.
Die beiden hatten keine gute Laune. Sie waren auf dem Weg zum Kloster der den Schmerz der Heiligen Jungfrau lindernden Schwestern, wo sich die Schule befand, die die Tochter der Garofalos besuchte. Einem Mädchen in die Augen schauen zu müssen, das beide Eltern verloren hatte, war sicherlich keine schöne Aussicht.
Ohne langsamer zu werden, fragte Ricciardi:
– Was hast du gestern von den Nachbarn erfahren? Irgendetwas Interessantes über das Leben der Garofalos?
– Nichts, was uns auf die richtige Fährte führen könnte, Commissario. Es scheint, dass er, Emanuele, ein Zenturio der Hafenmiliz war, Sie wissen doch, dieses Dings der Faschisten am Hafen zur Kontrolle des Warenverkehrs und des Fischfangs. Vor ein paar Jahren ist er befördert worden, sagte mir der Buchhalter, dieser Finelli. Die Beförderung gab's anscheinend für besondere Verdienste, er wusste aber nicht, welche.
Ricciardi nickte im Weitergehen.
– Verdienste bedeutet in unseren Zeiten, dass er irgendjemanden ausspioniert hat. Und sonst?
Maione keuchte, weil er gleichzeitig sprechen und mit dem Tempo seines Vorgesetzten Schritt halten musste.
– Die Nachbarn beteuern alle, wie anständig und ehrbar die Familie war. Ich vermute, da er zur faschistischen Miliz gehörte, hatten sie Angst, schlecht über ihn zu reden. Dauernd hieß es »tadellose, sehr ordentliche Leute« – ein bisschen zu oft für meinen Geschmack. Alles zu perfekt. Auch der Pförtner, Ferro, war furchtbar ehrerbietig. Kein Tratsch, keine Lästerei – ist das denn normal?
Ricciardi zuckte die Schultern, während er an den höflichen Empfang der abgestochenen Frau dachte: Hut und Handschuhe?
– Vielleicht stimmt's ja, woher wollen wir das wissen? Kam sie denn jemand besuchen, empfingen sie Gäste?
– Wenige. Ihre Schwester, ein paar seiner Kollegen in diesen komischen neuen Uniformen mit Schleifchen am Hut, Lieferanten. Sie empfingen wenig oder gar nicht, wenn man den Nachbarn glaubt.
– Und die Frau? Wie war sie so?
Maione machte eine vage Handbewegung:
– Ach, über sie sagen die Leute noch weniger. Eine
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