Die Gabe des Commissario Ricciardi
für sie aufgestellt. Sie bleibt gerne hier, wir hängen sehr aneinander.
Ricciardi versuchte, aus dem Gesicht der Nonne ihre Gefühle abzulesen.
– Können Sie uns etwas über den Umgang Ihrer Schwester und Ihres Schwagers sagen? Etwas, das uns einen Hinweis geben könnte …
– Ich weiß nichts über das Leben meiner Schwester und ihres Mannes. Er war ehrgeizig, dachte nur an die Arbeit und hatte kein großes soziales Umfeld. Um die Kleine, ihre Ausbildung, kümmere ich mich gemeinsam mit meiner Schwester. Das ist alles.
Der schrille Ton der kindlichen, hellen Stimme stand im Gegensatz zur Härte ihrer Worte. Ricciardi ließ nicht locker:
– Ihre Schwester könnte Ihnen doch etwas anvertraut haben, etwa von Streitigkeiten oder Drohungen erzählt haben, die gegen sie oder ihren Mann gerichtet waren.
Ohne mit dem Wippen aufzuhören, antwortete die Nonne:
– Commissario, ich hatte nichts mit den Angelegenheiten der beiden zu tun. Meinen Schwager sah ich selten, und wenn, dann nur kurz; er war immer bei der Arbeit, wie ich schon sagte. Und da meine Schwester in seinem Schatten lebte, habe ich mich darauf beschränkt, ein einziges Thema anzusprechen: meine Nichte und ihren Unterricht.
Ricciardi hielt dem Blick der Nonne stand. Maione schabte mit einem Fuß über den Boden wie ein unruhiges Maultier.
– Irre ich mich oder kann es sein, dass Ihr Schwager Ihnen nicht besonders gefiel?
Auf dem runden, roten Gesicht der Nonne erschien ein trauriges Lächeln:
– Um jemanden nicht zu mögen, muss man ihn kennen, Commissario. Und ich habe meinen Schwager insgesamt vielleicht vier oder fünf Mal gesehen. Er war nie da, entweder arbeitete er am Hafen oder war auf einer Parteiversammlung. Und jetzt ist er tot, und wegen ihm starb auch meine arme Schwester, und meine Nichte hat nur noch mich, eine Ordensschwester.
Ricciardi hakte beim letzten Satz nach:
– Warum sagen Sie »wegen ihm«?
Schwester Veronica sah ihm gerade in die Augen.
– Er war der Mann, der Wichtigere der beiden. Meine Schwester, wie ich schon sagte, führte nur ein Schattendasein im Haus. Wer auch immer das getan hat, das ist sicher, hatte es auf ihn abgesehen, und meine Schwester hat er nur deshalb getötet, weil sie zufällig im Weg stand. Ihre Wache gestern hat mir erzählt, wie sie gefunden wurden. Die arme Costanza hat nur die Tür aufgemacht. Sie wollten ihn.
Im Garten brauste der Wind. Die Temperatur im Raum schien noch weiter zu sinken. Ricciardi sagte:
– Was werden Sie denn mit dem Mädchen machen? Was werden Sie ihr sagen?
Die Nonne sah aus dem Fenster und seufzte leise.
– Sie ist ein starkes Kind. Ich werde ihr sagen, ihre Eltern seien verreist, und nach und nach werde ich sie ins Bild setzen, am Ende vielleicht sagen, dass sie bei einem Unfall gestorben sind, irgendwas Romantisches, ein untergegangenes Schiff, ein entgleister Zug in einem weit entfernten Land. Und bis dahin versuche ich, ihr das Leben möglichst angenehm zu machen.
Sie hielt kurz inne und fixierte erneut Ricciardi:
– Meine Schwester war sanft, wissen Sie. Sie war eine feinfühlige, ruhige, gebildete Frau. Sie hätte es verdient, lange zu leben, Enkelkinder zu haben, in Frieden alt zu werden. Ich habe für sie gebetet, die ganze Nacht, für meinen Schwager auch. Es kann doch nicht sein, dass ich sie jetzt nie mehr sehen werde.
Tränen liefen ihr leise die Wangen herab. Sie zog ein riesiges Taschentuch aus ihrem Kleid und schnäuzte sich, es klang wie eine Karnevalströte; doch weder Maione noch Ricciardi war nach Schmunzeln zumute.
Nach einer Weile sagte die Frau:
– Müssen Sie … möchten Sie mit Benedetta sprechen? Bitte, ich möchte, dass sie es so erfährt, wie ich Ihnen vorhin gesagt habe. Sie ist so klein, erst acht Jahre alt. Ihre Welt besteht aus Märchen und Helden, ich will nicht, dass ihr erster Kontakt mit der Realität gleich im Tod ihrer Eltern besteht.
Maione schaute zu Ricciardi, wartete dessen Zustimmung ab und sagte:
– Seien Sie unbesorgt, Schwester. Wir müssen nicht mit dem Mädchen sprechen. Selbst wenn wir ihr Fragen stellen sollten, wäre es nicht notwendig zu sagen, was geschehen ist. Behalten Sie sie bitte bei sich. Vielleicht werden wir in den nächsten Tagen mit ihr sprechen müssen.
– Danke, Brigadiere. Es wird nicht leicht werden. Weihnachten steht vor der Tür und sie wird wissen wollen, warum sie nicht zurück nach Hause kann. Ich schicke jemanden ihre Sachen abholen, Kleider und Puppen. Es wird nicht leicht
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