Die Gassen von Marseille
am Handgelenk. In das Schmuckstück ist »Raoul« eingraviert. Er zögert …
»M’sieur Guidoni?«, spreche ich ihn an. »Suchen Sie den Griechen? Das bin ich.«
Er mustert mich abschätzend und bestätigt schließlich: »Ja, den Griechen.«
Wir schütteln einander die Hand.
»Inspektor Raoul Guidoni«, stellt er sich vor.
Das ist mal ein anständiger Händedruck, männlich, wie es sich gehört. Ich verziehe kurz das Gesicht. Er lächelt flüchtig.
»Entschuldigen Sie. Ich drücke zu fest …«
Dann lässt er meine malträtierte Hand los.
»Kommissar Mateis hat mich geschickt, um Sie abzuholen. Wir brauchen Sie … In diesem Labyrinth hier hätte ich Sie fast nicht gefunden. Kein Mensch zu sehen, der mir hätte sagen können, ob’s nach rechts oder links geht. Letztlich war es pures Glück …«
Gewonnen!
Ein echter Marseiller.
Er hat einen grauenvollen Akzent … und mustert mein Haus.
»Da wohnen Sie?«
Er wirkt belustigt. Für die Marseiller, die »etwas aus sich gemacht haben«, ist jemand, der im Panier wohnt, entweder bitterarm oder extrem schrullig.
» Té, nicht gerade einfach, hier einen Parkplatz zu finden«, fährt er fort. »Ich habe den Wagen beim Évêché abgestellt. Da wird er wenigstens gut bewacht. In der Gegend hier … bei all den bicots und nervis … Na ja, ’tschuldigung!«
Durch das Gewirr der Gässchen gehen wir zum Polizeipräsidium. Es stimmt, das Viertel ist ziemlich verrufen. Und diesen Ruf hat es nicht zu unrecht. Die Nähe zum Évêché schreckt die bösen Jungs nicht ab. Im Gegenteil … Aber es hat fast den Anschein, als wäre das den Bullen egal.
»Warum will der Kommissar mich denn sehen?«, frage ich den Polizisten.
Er zögert.
»Es ist mir lieber, er erzählt Ihnen das selbst. Meine Güte, ist das heiß heute! Die Sonne hat den ganzen Tag über vom Himmel geknallt, das war schon nicht mehr feierlich!«
Raoul lässt beim Gehen die Schultern kreisen wie ein echter mia, und mir nichts, dir nichts sind wir beim Évêché. Er öffnet die Tür des Dienstwagens für mich, und wir fahren los. Das Innere des Autos blitzt und blinkt, nirgends ist ein Fleck zu sehen.
»Ist die Kiste neu?«, frage ich ihn. »Der riecht ja noch nach frischem Plastik.«
Stolz erklärt er: »Wir haben ihn gerade erst bekommen … Nicht schlecht, was?«
Er berichtet in aller Ausführlichkeit von der Leistung des Wagens, von Zylindern, PS … lauter Dingen, von denen ich nichts verstehe. Und die mich auch nicht wirklich interessieren.
»Dürfen Sie mir wenigstens verraten, wohin wir fahren?«, frage ich. »Oder ist das auch ein Dienstgeheimnis?«
Er lächelt. Ich gefalle ihm.
»Doch, das kann ich Ihnen verraten. Hinters Évêché. Zur Joliette, es ist nicht weit …«
Er hat recht, wir müssen bloß am Zollgebäude vorbei und dann nach rechts auf die Kaianlagen abbiegen, wo wir an verlassenen Lagerhallen entlangfahren. Dieses Industriegelände hat mich schon immer fasziniert.
Vor allem nachts.
Hier liegen unzählige Schiffe, metallene Festungen in allen Größen und Formen, majestätisch, friedlich und reglos da.
Die Kreuzfahrtschiffe, die LASH-Carrier, die Öltanker, die Methantanker, die Schüttgutfrachter, die Erzfrachter, die Kühlschiffe, die Feederschiffe, die Betankungsschiffe, die ConRo-Schiffe, die Frachter mit Kohle, Getreide, Kies, Zement, Säuren, Langhölzern, Autos und Hüttenerzeugnissen, sie alle wirken um diese Uhrzeit wie tot …
Der Inspektor unterbricht meine Gedankengänge.
»Wenigstens ist hier um die Zeit kein Betrieb mehr.«
»Nein, das ist mal sicher …«
Ein Stück neben den geparkten Van-Carriern stehen die Kräne wie riesige reglose Gottesanbeterinnen über Nacht nebeneinander aufgereiht … Die Männer in Chinesisch-Blau sitzen alle in der Kneipe vor einem Schnaps … Die wohlverdiente Entspannung der Hafenarbeiter.
Der Hafen … im Nebel … Du hast schöne Augen, weißt du das? Ja, sicher … Wenn es hier nicht so neblig wäre, kämst du bestimmt wieder … Seltsame Vorstellung, Gabin und Morgan in diesem extrem Marseiller Rahmen …
Ich kann sie mir schlecht vor einem Aïoli oder einer Bouillabaisse vorstellen, gleich nach dem Pétanque. Das passt nicht zur Romantik des Nordens.
Aber der Rest …
Wir fahren weitere zehn Minuten, dann erreichen wir das Bassin du Radoub. Dieser Bereich wird von einem knappen Dutzend starker Scheinwerfer ausgeleuchtet. Ich entdecke meinen Freund, den Kommissar Mateis, mitten im Lichtkreis, ähnlich wie einst,
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