Die Gassen von Marseille
mich, ehe er anfängt, sich über die sturen Hafenarbeiter zu beklagen, denn das würde am Ende unweigerlich in ein heftiges Lamentieren und Schimpfen über die Pleite der kleinen Reedereien münden.
»Entschuldige, aber was hat dieser blöde Rucksack mit mir zu tun? Ich habe ihn noch nie gesehen, verdammt noch mal! Wem gehört er?«
Philippe lächelt.
»Ich weiß … Ich meinte gerade …«
Er sieht mich mit einem oberschlauen Gesichtsausdruck an. Am liebsten würde ich ihm eine scheuern!
»Rate mal, was wir in diesem Rucksack gefunden haben? Im Futter versteckt … Fein säuberlich in einem Umschlag …«
In diesem Moment wird der Motor des Krans angeworfen. Nach kurzem Zögern schwenkt der Ausleger auf den Lichtkreis zu. Der Mann dirigiert den weißen Fleck direkt über uns und lässt ihn dann langsam herunter. Wir warten stocksteif auf die Leiche.
»Hör zu, Constantin, am besten gehst du jetzt rüber zu den Dockern und trinkst erst mal einen Kaffee. Ich komme dann gleich nach.«
Ich beruhige ihn.
»Ach was, mach dir keine Sorgen. Ich habe in meinem Leben mehr als genug Leichen gesehen! Vergiss nicht …«
Philippe zieht mich am Ärmel zur Seite.
»Pass auf!«
Der Kranführer – entweder ein Scherzkeks oder ein ungeschickter Tölpel – schwingt die Leiche über unsere Köpfe. Philippe ist sauer.
»Verfluchter Dreckskerl!«
Mit Unterstützung eines Polizisten legt der Arzt die Frau auf eine Plastikplane. Kein schöner Anblick. Man hat ihr ein Stahlseil um den Hals gebunden und sie daran aufgehängt. Sie ist nackt. Groß, blond, die Haare schulterlang, ziemlich schlank, sehr weiß.
Der Doc löst das Seil. Die blaue Strangulationsmarke an ihrem Hals ist deutlich zu sehen. Er macht sich an die Arbeit. Am meisten bestürzt mich ihr Gesicht. Sie hat keine Nase mehr, keine Augen, keine Ohren. Abgeschnitten, abgehackt, herausgerissen … Auf den Rest ist so brutal eingeschlagen worden, dass die Knochen gebrochen sind. Auch die rechte Hand fehlt. Die Farbe der Haut verrät uns deutlich, wie viele Schläge sie vor ihrem Tod abbekommen hat.
»Nicht schön!«, knurrt der Arzt vor sich hin.
Philippe schiebt einen Arm unter den meinen.
»Komm, lass uns gehen … Ich gebe Guidoni noch ein paar Anweisungen und Esthers Telefonnummer, damit er mich notfalls erreichen kann. Dann werde ich dir unterwegs alles erklären …«
Ich steige schon mal in seinen Wagen und warte auf ihn. Er läuft eine Weile geschäftig im Lichtkreis hin und her, ehe er schließlich zu mir ins Auto kommt. Wir sagen beide kein Wort und lassen den Blick über die Hafenanlagen schweifen. Dann bricht Philippe das Schweigen.
»Hier!«
Er hält mir eine durchsichtige Plastikhülle hin, in der ich im schwachen Licht der Straßenlaterne ein Stück Glanzpapier erkenne.
»Du kannst sie aufmachen! Wir haben schon alles überprüft … Nichts drauf … keine Fingerabdrücke, gar nichts …«
Ich nehme die Hülle, öffne sie und hole ein Stück von einem Foto heraus.
»Was ist das?«
»Schau auf die Rückseite!«
Ich drehe es um und sehe, halb verblasst, meinen Stempel. Ich bin baff.
»Scheiße! Was ist das denn?«
Meine alte Telefonnummer, die Adresse meines alten Fotolabors im Panier.
»Meine Güte, das ist aber auch nicht mehr taufrisch …«
Auf der Vorderseite erkenne ich undeutlich eine Tagesdecke und vielleicht einen Fuß … Glaube ich zumindest.
»Das habe ich mir gedacht … Um zu verhindern, dass jemand den Rand abschneidet, habe ich meinen Stempel immer ziemlich genau in die Mitte gesetzt. Ich kann dir sagen … Es ist mir schon passiert, dass irgendwelche Typen meinen Stempel einfach abgeschnitten und die Fotos dann weiterverkauft haben. Keiner hat was gemerkt, und ich stand da wie ein Trottel! Seit sie mich so über den Tisch gezogen haben, kommt der Stempel da in die Mitte … Aber das ist alles schon ewig her!«
Ich konzentriere mich auf den schwarz-weißen Schnipsel. Jemand hat die vier Seiten abgeschnitten, unregelmäßig, hastig …
»Aber …«
Philippe hört mir aufmerksam zu.
»Jetzt wird’s mir klar, das hat jemand absichtlich gemacht, um meine Adresse zu haben …«
»Genau das habe ich mir auch gedacht.«
Meine Neugier ist geweckt.
»Und sie hat es versteckt?«
»Ja, und zwar erstaunlich gut. Ins Futter eingenäht. Aber die Frage aller Fragen ist … Was sieht man auf diesem verdammten Foto?«
Ich habe nicht die geringste Ahnung.
»Kann ich es behalten?«
»Nein, aber ich lasse dir morgen früh eine
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