Die Gassen von Marseille
als er noch der Sänger der berühmten Rockband »Docteur Léopolblum« war.
Wenn ich das erzähle, glaubt mir niemand. Aber genauso haben wir uns kennengelernt. Er war der Star, der von den Massen umschwärmt wurde … Und ich war der Typ, der sich vom umschwärmten Star die Freundin ausspannen ließ … Als die Braut schließlich auch von ihm nichts mehr wissen wollte, genauso wenig wie die jubelnden Massen übrigens, flüchtete er sich zu mir … Um bei der Wahrheit zu bleiben, hatten wir uns in der Zwischenzeit angefreundet.
Ich steige aus und rufe ihn.
»Hey, großer Sänger!«
Erfreut dreht er sich um.
»Verdammt, du hast dich ja tatsächlich beeilt!«
Er packt mich, und wir küssen einander zur Begrüßung.
Inspektor Guidoni hebt die Hand und mischt sich ein. »Ich hatte Glück«, sagt er, »hab die Adresse ohne große Probleme gefunden … Und dann kam er auch noch gerade die Treppe runter, darum …«
Philippe bedankt sich beim Inspektor und sieht mich ernst an.
»Alles klar?«
Resigniert zucke ich mit den Schultern.
»Geht so … Ich habe heute das letzte Foto von Juliette zerrissen … In vier Teile … dann hab ich’s in den Mülleimer im Bad geschmissen. Also … Ich stelle gerade mal wieder mein Leben auf den Kopf.«
Schweigen.
»Großartig!«, ruft er schließlich begeistert. »Willkommen in der Welt der Lebenden … und der Toten …«
Er deutet mit einem Finger in die Luft. Ich folge der Richtung, in die er zeigt. Dort oben hängt etwas am Ausleger eines Krans und schwankt sanft im leisen Wind. Ein weißer Fleck im Tintenschwarz der provenzalischen Nacht. Unter das Geräusch der Brandung mischt sich deutlich hörbar das durchdringende Zirpen der Grillen.
»Verdammt warm heute!«, sagt Philippe.
Er fächelt sich Luft zu. Mir scheint, er hat schon wieder zugenommen.
»Wir haben einen Hafenarbeiter geholt, der sie runterlassen soll«, fügt er hinzu.
»Sie runterlassen? Wie? Wer ist das überhaupt, und was hab ich hier zu suchen?«
Ich kann kaum erkennen, was da oben hängt, zehn Meter über dem Boden.
»Es ist eine Frau …«, antwortet er. »Sie ist nackt … Es kann noch nicht lange her sein, dass sie da oben aufgehängt wurde … Zwei Stunden, höchstens. Vorher war hier vor der Lagerhalle noch Betrieb. Ein Frachter für Panama, bis obenhin vollgepackt mit französischen Computern. Niemand hat etwas gesehen … Wie immer. Aber du musst zugeben … Eine Frau mitten im Industriehafen aufzuhängen …«
Mir läuft es eiskalt den Rücken runter.
»Du hast echt ’nen beschissenen Job!«
Er seufzt schicksalsergeben.
»Was willst du, man rührt nicht in der Scheiße, ohne was davon abzubekommen …«
»Moment mal, Philippe. Warum bin ich hier? Während bei Esther eine saftige Polenta kalt wird …«
Er schwenkt einen durchsichtigen Plastikbeutel vor meinen Augen, in dem ich einen kleinen schwarzen Lederrucksack erkenne.
»Deswegen.«
Ich mustere den Rucksack. Er kommt mir nicht bekannt vor.
»Sagt mir gar nichts, das Ding …«
Verständnislos schüttele ich den Kopf und warte schweigend, ob er sich zu weiteren Erklärungen herablässt.
»Wir glauben, dass er dem Opfer gehört. Er lag da hinten in der Ecke im Wasser.«
Er deutet zum Ende des Kais. Drei Männer knien dort mit Pinseln in der Hand vor einem riesigen gusseisernen Poller und suchen ihn nach Hinweisen und Spuren ab. Ganz in der Nähe steht ein Typ in Gedanken versunken, eine schwarze Tasche neben sich auf dem Boden.
»Der Doc …«, informiert mich Philippe diskret. »Er ist sauer … Familienfest …«
Resigniert stößt er den Atem aus.
»Tsss! So ist der Job, da kann man nichts machen … Wir haben auch Kleidungsfetzen gefunden, darunter ein BH-Körbchen, das mit einem Teppichmesser oder einer Rasierklinge zerschnitten wurde. Außerdem Blut, Haare und sogar einen Finger … mit Nagel … roter Nagellack … sehr hübsch … Die Tote da oben muss in einer ziemlich üblen Verfassung sein …«
Er hält inne.
»Ah, da kommt der Hafenarbeiter. Warte eine Sekunde.«
Ein in traditionelles Blau gekleideter Mann kommt, die Hände in den Taschen vergraben, seelenruhig näher. Mein Freund redet auf ihn ein. Der Techniker mustert die in der Luft baumelnde menschliche Gestalt und stößt mit Kennermiene einen Pfiff aus. Dann geht er langsam zu dem Kran hinüber, steigt in die Kabine der Stahlkonstruktion und verschwindet in der Dunkelheit.
»Verfluchte Kerle, diese Docker!«
Ich lenke sein Interesse wieder auf
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