Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Gauklerin

Die Gauklerin

Titel: Die Gauklerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
Vom Netzwerk:
dass er jeden Morgen in die deutsche Schule hinüber ging, um an der Stelle des geflohenen Schulmeisters zu unterrichten. Der Stuttgarter Pfarrer hatte ihm diese Aufgabe übertragen, und Agnes erfüllte Stolz auf ihren Sohn.
    «Nach Elses Tod hatte sich die Wallnerin erboten, die Ahn zu pflegen, solange ich außer Haus bin», berichtete der Junge. «Ich war natürlich froh darum, doch dann hörte ich irgendwann die Leute auf der Gasse davon reden, Großmutter habe übermenschliche Kräfte. Sie zähle bereits neunundneunzig Jahre, und wer sie berühre, der werde ebenso alt wie sie. Gerade heute wollte ich der Sache auf den Grund gehen und bin früher als sonst nach Hause gekommen. Ihr glaubt nicht, was ich für ein Affenspektakel vorgefunden habe. Bei Kerzenlicht haben sie Weihrauch geschwenkt und Sprüche gemurmelt. Die Wallnerin hat sich das alles gut bezahlen lassen.»
    «Dann gehört das Geld hier also der Magd.»
    «Nein.» Jakobs Stimme war eine Spur zu laut, wie Agnes fand. «Es gehört Mutter. Und dieser Spuk hat jetzt hoffentlich ein füralle Mal ein Ende.» Er zog die zweite Flasche Wein aus dem Korb. «Den guten Wein allerdings sollten wir nicht verschmähen, oder was meint ihr?»
    Agnes war längst aufgefallen, dass Jakob schnell und hastig trank. Ihr fiel Steinhagens Bemerkung ein, er habe einige Nächte mit Jakob durchgezecht. Wie sehr sie sich alle verändert hatten.
    «Trinken wir also darauf», Jakob hob die Flasche, «dass das Schicksal unsere Familie wieder zusammengeführt hat.»
    Er nahm den ersten Schluck und reichte den Wein an Matthes weiter, der den Blick abwendete. Agnes sah zu ihrer Mutter. Ihre Atemzüge waren tief und gleichmäßig, sie schien zu schlafen. Ihre zuvor so wachsbleichen Wangen hatten Farbe bekommen, als sei sie ganz plötzlich auf dem Weg zur Genesung.
    «Und auf David», sagte Matthes leise, «der auf unsere Mutter Acht gegeben hat.»
    Agnes nahm ihren Sohn liebevoll in den Arm. «Dein Oheim hat Recht. Ich danke dir. Es scheint mir wie ein Wunder, dass sie sich wieder bewegen und hören und sprechen kann.»
    «Sie war niemals gelähmt oder stumm», gab David leise zurück. «Sie wollte nur nicht mehr am Leben teilhaben. Doch sterben konnte sie auch nicht. So habe ich jeden Tag mit ihr gebetet, dass all ihre Kinder gesund zu ihr zurückkehren. Als dann vom Hohentwiel die Nachricht kam, dass ihr bald in Stuttgart sein würdet, war sie schon so schwach, dass ich fürchtete, ihr kommt zu spät. Da habe ich begonnen, ihr vorzulesen.»
    «Vorzulesen?»
    «Ja, stundenlang. Um ihr die Zeit zu verkürzen, sie abzulenken. Erst unsere Bibel, vom ersten bis zum letzten Wort, dann habe ich nach und nach die wenigen Bücher geholt, die unser Schulmeister dagelassen hatte. Nun ja, und schließlich   –» Er stockte. «Irgendwann bin ich heimlich ins Schloss, in den Lustgarten.»
    «Du bist ja vollkommen närrisch.» Jakobs helle Augen blickten schon ein wenig glasig.
    David unterdrückte ein Grinsen. «Ich wusste, dass Prinzessin Antonia immer ein paar Bücher in ihrem Pavillon versteckt hielt. Die habe ich geholt, in einer stürmischen Nacht. Selbstredend nur geliehen.» Er wurde wieder ernst. «So habe ich ihr jeden Tag aus den Schriften der Rosenkreuzer und des Paracelsus vorgelesen, seit gestern lesen wir Arnds ‹Vier Bücher vom wahren Christentum›. Trotz ihrer Müdigkeit und Schwäche hat sie aufmerksam zugehört. Als habe ihr», fügte er leise hinzu, «jeder Herzschlag, jeder Atemzug gesagt: Halt aus! Halt aus! Und sie hat ausgehalten.»
    Gerührt betrachtete Agnes das blasse Gesicht ihres Sohnes. Erst jetzt fiel ihr auf, wie müde er wirkte.
    Jakob erhob sich: «Ich muss in die Garnison zurück. Zeig mir nun endlich deine Verletzung, Matthes.»
    Unwillig öffnete Matthes den Verband. Augenblicklich stand das blanke Entsetzen in Jakobs Augen. «Die Hand ist vollkommen brandig. Ich muss – ich muss amputieren. Gleich morgen früh, nach dem Kirchgang.»
     
    Der nächste Tag war ein Sonntag. Bis auf Matthes, der bei Marthe-Marie blieb und es vorzog, im Stillen zu beten, besuchten sie den evangelischen Gottesdienst in der nahen Leonhardskirche. Dann bereitete Jakob draußen im Hof alles für die Operation vor.
    Matthes stand mit kalkweißem Gesicht daneben, in der Hand ein Fläschchen mit Selbstgebranntem. «Erinnerst du dich, wie Vater immer sagte, ich hätte zwei linke Hände?»
    Jakob nickte und nahm selbst einen kräftigen Schluck.
    «Jetzt werde ich gleich nicht mal mehr

Weitere Kostenlose Bücher