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Die Geächteten

Die Geächteten

Titel: Die Geächteten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hillary Jordan
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im Sessel, und ihr Kopf war allem anderen gegenüber verschlossen. Nur die Kleinigkeiten in diesem Moment zählten: das Pochen ihres Steißbeins, die kribbelnde Wärme, die in Finger und Zehen zurückkehrte, der Geruch von Büchern, altem Holz und Möbelpolitur, das entfernte Pfeifen eines Wasserkessels. Pastorin Easter kam mit einem Tablett auf dem Arm zurück, auf dem ein Teller mit Keksen und zwei dampfende Becher Tee standen. Sie stellte es auf ihren Schreibtisch und schob dafür einen Stapel Papiere beiseite. Dann ging sie zum Bücherregal und holte eine Flasche mit einer amberfarbenen Flüssigkeit aus einem großen, ledergebundenen Werk heraus – Das Leben der Heiligen , wie Hannah amüsiert feststellte. Die Priesterin hielt die Flasche hoch. »Der ist aus Schottland, dem Land meiner Vorfahren. Die meisten von ihnen haben in den Kohleminen gearbeitet: sehr arm, alt mit dreißig und gestorben mit vierzig, mit etwas Glück mit fünfundvierzig. Mein Urururgroßvater hat sich für sieben Jahre verpflichtet, um das Geld für die Reise hierher zu verdienen. Ist es nicht erstaunlich, was Menschen alles für ein besseres Leben auf sich nehmen?«
    Nein , dachte Hannah. Es ist nicht erstaunlich .
    Pastorin Easter goss in den einen Becher einen großen Schluck und in den anderen nur ein bisschen. Den mit dem großen Schluck reichte sie Hannah. Der beißende Geruch von Alkohol stieg in Hannahs Nase, und sie hielt den Becher in Armeslänge von sich weg. »Du trinkst das bis auf den letzten Tropfen. Betrachte es als Medizin«, sagte die Priesterin mit heiterer Autorität. Hannah fügte sich, führte den Becher an die Lippen und nahm einen winzigen Schluck. Sie hatte etwas Saures oder Unangenehmes erwartet, doch es schmeckte köstlich, nach Honig und Zitronen und leicht nach Kohle. Das musste Scotch sein. Und er bewirkte, dass sie sich besser fühlte. Kleine Wärmewellen rollten durch ihren Bauch, entspannten ihre Muskeln und beruhigten ihre angespannten Nerven.
    Die Pastorin nippte in kameradschaftlichem Schweigen an ihrem Tee. Sie überließ es Hannah, ob sie einfach nur dasitzen und ihre Knochen wärmen oder reden wollte. Die ältere Frau – Hannah schätzte sie auf Ende fünfzig oder Anfang sechzig – schaute sie hin und wieder an, mit einem neugierigen Gesichtsausdruck, der weder begierig noch berechnend war. Und auch nicht verurteilend. Die Priesterin wollte gar nichts von ihr, wie Hannah feststellte. Keinen Dank, keine Reue, keine Beichte. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass die Priesterin, würde Hannah den Wunsch zum Beichten verspüren, ihr mit ernsthaftem Interesse und unerschütterlicher Ruhe zuhören würde. Ganz egal, was Hannah über die Lippen käme. Sie studierte ihr Gegenüber, um Hinweise auf ihr Wesen zu erhalten, fragte sich, wie es war, eine Priesterin zu sein und ob sie jemals verheiratet gewesen war – sie trug keinen Ehering – und wie viel von dem, was in der Bibel stand, sie wirklich glaubte. Irgendwie konnte sich Hannah keine Frau vorstellen, die in einem Geheimfach Whiskey aufbewahrte.
    »Geht es jetzt besser?«, fragte Pastorin Easter nach einer Weile.
    »Viel besser. Danke.«
    »Gut«, sagte die Priesterin mit einem zufriedenen Nicken, »das erklärt es.«
    »Erklärt was?«
    »Dieses bohrende Gefühl, das man manchmal verspürt, als hätte man vergessen, etwas zu erledigen. Vor weniger als einer Stunde hatte ich bereits mein Nachthemd angezogen und mir die Zähne geputzt. Ich war nur einige Sekunden davon entfernt, in mein warmes Bett zu steigen, als es plötzlich da war und anfing, mich zu knuffen und anzustupsen. Oh nein, habe ich ihm gesagt, ich bin nicht bereit, in dieses Chaos zu gehen, es gibt weniger als ein Dutzend Menschen in dieser Stadt, die wissen, wie man bei Schnee fährt, und auch wenn ich schon alt bin, bin ich noch nicht bereit zu sterben. Doch es ist dickköpfig, dieses Gefühl, ja, sogar dickköpfiger, als ich es bin. Es rückte mir nicht von der Pelle, bis ich endlich nachgab, mich anzog und hierher fuhr. Und nun weiß ich auch, warum.«
    »Sie denken, das war meinetwegen?«
    »Da bin ich mir ganz sicher.«
    »Glauben Sie, es war Gottes Werk?« Hannah wünschte sich so sehr für die Priesterin, eine gleichermaßen eindeutige Antwort zu geben: Ja, absolut, natürlich war es das.
    »Glaubst du das?«, fragte die Priesterin.
    »Ich würde gern, aber …« Hannah schüttelte den Kopf.
    »Aber wie kann Gott angesichts der Grausamkeit und Ungerechtigkeit in der Welt

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