Die Geächteten
großen Gruppen sammelten. Sie hatte genug vom Beton unter ihren Füßen und gedrängt stehenden Gebäuden mit ihren Fenstern, die sie Reihe für Reihe wie leere Augen ohne Lider anstarrten. Sie hatte genug von geraden Linien und rechten Winkeln, von sternenlosen, gelb-grauen Nächten und Sonnenuntergängen, die durch die Umweltverschmutzung hervorgerufen wurden.
Als die Uhr am Armaturenbrett von zwölf auf zwölf und eine Minute sprang, vermischte sich ihre Aufregung mit innerer Unruhe. Heute war der einunddreißigste Dezember, Silvester. Der Tag, an dem sie ihn sehen würde.
Im vergangenen Jahr hatte sie zu Hause mit ihrer Familie und einigen Freunden aus der Kirche gefeiert. Sie hatte gelächelt und die Gläser der Gäste mit perlendem Apfelwein gefüllt. Und um Mitternacht hatte sie ihr eigenes Glas gehoben und ihre Eltern, Becca und die anderen geküsst und ihnen ein frohes neues Jahr gewünscht. Und die ganze Zeit hatte sie sich vorgestellt, wie Aidan mit Alyssa auf der alljährlich stattfindenden Benefizveranstaltung zur Rettung der Kinder den Abend verbrachte. Sie wusste, dass diese Bilder am nächsten Tag überall im Netz zu finden wären – Aidan, der in seinem Smoking einfach umwerfend aussah, und Alyssa, die zu ihm aufsah und lächelte. Sie wusste auch, dass sie nicht umhinkönnte, sich diese Bilder anzusehen, dass sie einen prüfenden Blick darauf werfen musste, um zu sehen, ob er den Abend mit seiner Frau auch wirklich genossen hatte.
Heute hatte sie keinen Grund zur Eifersucht. Heute würde sie ihn treffen. Und er würde … ja, was würde er sehen? Die Frau, die er liebte, oder eine Monstrosität? Was wäre, wenn er sie nicht mehr begehren würde? Was, wenn ihre rote Haut wie ein Stopp-Schild auf ihn wirkte, das ihn einfach nicht an sie heranließ? Wie könnte sie es ertragen, ihn anzusehen und ihn nicht noch einmal zu berühren, zu küssen, zu umarmen? Die Einsicht hatte sich in einem dunklen Kämmerchen ihres Verstandes versteckt, seitdem sie sich entschlossen hatte, zu ihm zu fahren, und nun brach sie ans Licht, furchtbar und unanfechtbar.
Nach dem morgigen Tag würde sie Aidan niemals wiedersehen.
Er konnte nicht zu ihr nach Kanada kommen. Wenn er es tat, würden es die Novembristen sicher herausfinden und sie beide töten. Simone würde diese Aufgabe womöglich jemand anderem übertragen, aber sie würde auf jeden Fall dazu beitragen, dass sie zum Schweigen gebracht würden. Sie hätte gar keine andere Wahl, vor allem, weil Aidans Popularität zu groß war. Selbst wenn er und Hannah Nordamerika verlassen würden, gäbe es keinen Ort auf der Welt, wo man sein Gesicht nicht wiedererkennen würde. Und ihn dieser Gefahr auszusetzen und der ständigen qualvollen Furcht – nein, das wollte sie ihm nicht antun.
Trotzdem. Für einen Tag und eine Nacht würde er ihr gehören, und sie wünschte sich, dass es perfekt werden würde, dass sie einen glänzenden Edelstein mitnehmen konnte in die leere Weite, die ihre Zukunft war.
Das würde nicht genug sein. Doch es musste genug sein.
Als sie sich der Hauptstadt näherte, gab sich die Landschaft den Vororten geschlagen. Sie verließ die I-66 und fuhr Richtung Süden in die Wohngebiete von Washingtons Elite. Je weiter sie sich von der Autobahn entfernte, desto mustergültiger wurden die Viertel und desto größer und imposanter die Häuser.
Schließlich erreichte sie Maxon. Es war reizend, mehr ein Dorf als eine Stadt, mit einer einzigen Ampel. Als sie auf Grün wartete, begann es leicht zu schneien, was das Ganze noch unwirklicher machte. Eine nahezu surreale Atmosphäre. Hannah konnte sich vorstellen, wie Alyssa hier mit einem Weidenkorb überm Arm im Gourmet-Tempel einkaufen ging oder mit einer Freundin einen Latte Macchiato trank, nachdem sie sich im Ritz-Salon hatte frisieren lassen. Sie konnte sich Aidan vorstellen, der beim feinsten Juwelier nach einem Geschenk für Alyssa suchte – nichts zu Protziges, eine Perlenkette vielleicht oder ein Paar geschmackvolle Diamant-Ohrstecker. Und dann würde er sie ihr bei einer Crème Brûlée im Chez Claude überreichen. Ein Traum von einem Leben, eines, das Hannah sich für sich vorzustellen versuchte. Doch das konnte sie nicht. Nicht mehr.
Ihre Hände umklammerten fest das Lenkrad, als sie auf die Chestnut Street bog. Die Straße war so malerisch wie alles andere hier, breit und von Bäumen gesäumt, mit großen bewaldeten Flächen und eingezäunten Herrenhäusern, die weitab von der Straße standen.
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