Die Geächteten
Nummer 1105, so viel konnte Hannah erkennen, war ein weißes Landhaus im Kolonialstil mit einer großen Veranda und dunklen Fensterläden. Ein Kranz aus Kiefernzweigen mit einer fröhlichen roten Schleife hing an einem schmiedeeisernen Tor. Den hat bestimmt Alyssa aufgehängt, dachte Hannah. Sie war sicher ein Stück zurückgetreten, um ganz sicherzugehen, dass der Kranz auch wirklich in der Mitte hing. Sie hatte ihn ein bisschen zurechtgerückt und gelächelt, weil sie stolz auf ihre Arbeit war. Bestimmt hatte Alyssa dieses Haus ausgesucht und dekoriert, es nach Aidans und ihrem Geschmack möbliert und hier und da eine feminine Note hinzugefügt, die aus einem Haus erst ein wohliges Heim machte.
Was in aller Welt hatte sie hier eigentlich zu suchen? Sie hatte plötzlich das Bedürfnis, den Lieferwagen zu wenden und wieder auf die Autobahn und an die kanadische Grenze zu fahren. Doch wenn sie das täte, würde sie sein Herz brechen. Sie musste es ohnehin brechen, das wusste sie, aber sie wollte nicht feige sein und mit ihm reden.
Und so fuhr sie weiter die Straße entlang, passierte eine Brücke über einem kleinen Bach und weitere Häuser, eine dunkle Kirche, einen öffentlichen Park. Es war fast Mitternacht, und der Bahnhof war bis auf ein paar abgestellte, zugeschneite Luxusfahrzeuge, von denen die meisten nicht von hier kamen, wie ausgestorben. Hannah fühlte sich nach sieben Stunden hinter dem Steuer steif und müde. Sie zog ihren Mantel an und ließ die Pistole vorsichtig in die rechte Tasche gleiten, dann griff sie sich ihren Rucksack, öffnete die Tür und bereitete sich auf eine Eiseskälte vor. Als sie Mississippi und Greensboro verlassen hatte, waren die Temperaturen noch erträglich gewesen, doch mittlerweile war eine Kaltfront hereingebrochen, und auf ihrer Fahrt nach Norden waren die Zahlen auf dem Temperaturanzeiger des Lieferwagens nach und nach niedriger geworden. Sie war erst wenige Sekunden im Freien, als sie feststellte, dass man sich auf eine derartige Kälte nicht vorbereiten konnte. Mit einem stillen Dankeschön an Susan und Anthony zog sie die Handschuhe an, die sie ihr geschenkt hatten, und die Kapuze über den Kopf, dann ging sie, so schnell sie konnte, den eisglatten Gehweg hinunter. Der Schneefall wurde stärker, und die Schneeflocken wirbelten ihr ins Gesicht, betäubten ihre Wangen und verdunkelten ihr Umfeld. Dafür war Hannah dankbar. Keiner, der nicht unbedingt musste, wagte es, dem Wetter zu trotzen, und die Fahrer der wenigen Autos, die vorbeifuhren, konnten sie nicht sehen oder waren zu sehr damit beschäftigt, sicher nach Hause zu kommen. Ein einsamer Fußgänger war in dieser Situation nicht von Interesse.
Als sie die halbe Strecke zu Aidans Haus gelaufen war, kam sie an der Kirche vorbei, die ihr bereits auf der Fahrt aufgefallen war. Sie war überrascht. Denn jetzt strahlten die Buntglasfenster wie Edelsteine, und die gusseisernen Lampen, die den vorderen Weg säumten, waren angezündet. Ihr Licht fiel auf ein Schild: GEBURTSKIRCHE, ERBAUT 1737. Daran hing wiederum ein Schild mit den bekannten Worten DIE EPISKOPALKIRCHE HEISST DICH WILLKOMMEN, das im Wind hin und her schaukelte. Am Ende des Gehwegs hielt Hannah an und bewunderte das aufsehenerregende Spitzdach der Kirche und den massiven Glockenturm, der von einem weißen Schindelturm gekrönt war. Hannah hatte die Ästhetik der Episkopalkirchen schon immer bewundert und ihre Einfachheit und Anmut gemocht. Als sie einmal mit ihrer Mutter an der Inkarnationskirche in Dallas vorbeigefahren war, hatte sie sich über deren Schönheit geäußert.
»Schön ist nur, was Schönes macht«, hatte ihre Mutter entgegnet und damit auf den berüchtigten Liberalismus der Episkopalkirche angespielt: ihren frühen Widerstand gegen die Haut-Verchromung und die Gesetze zur Unantastbarkeit des Lebens, ihre Duldung von Scheidung und Priesterinnen, ihre Toleranz gegenüber dem vorehelichen Geschlechtsverkehr, der Homosexualität und dem Alkohol. Und das Schlimmste von allen war die Bereitschaft einiger Gemeinden, schwule Priester und Bischöfe an ihre Spitze zu stellen.
Hannah legte den Kopf in den Nacken und folgte der Linie des Glockenturms bis zur schneebedeckten Spitze, ein Finger, der sehnsüchtig auf Gott wies. Sie fragte sich, ob diese Kirche sie wirklich willkommen heißen würde, sie, eine Ehebrecherin, die abgetrieben, die Polizei belogen und eine homosexuelle Affäre gehabt hatte.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine männliche
Weitere Kostenlose Bücher