Die Geächteten
Stimme.
Hannah zuckte zusammen, und ihr Blick fiel auf einen Streifen goldenen Lichts an der Seite der Kirche. Aus einer offenen Tür schaute ein Gesicht heraus. Hannah wusste, dass es besser wäre, sich abzuwenden und weiterzugehen, aber sie war wie erstarrt und so verunsichert, dass das Einzige, was sie tun konnte, zu starren war, zu starren wie ein großes rotes Kaninchen, das von einem Paar Scheinwerfer angeleuchtet wurde.
»Sie müssen frieren«, sagte der Mann. »Warum kommen Sie nicht herein und wärmen sich einige Minuten auf?« Seine Stimme klang abgehackt und ein bisschen schroff, aber auch freundlich. Sie erinnerte Hannah an etwas, sie wusste nicht, woran, aber die Assoziation war positiv und erzeugte Vertrauen.
Du darfst niemandem trauen, nur dir selbst . »Danke, aber mir geht es gut«, erwiderte sie in ihrer Benommenheit. Sie winkte ihm dankbar zu, zog den Kopf ein und wandte sich um. Trotz des Schnees, das war Hannah klar, hatte er im Lichtschein der Lampen ihr rotes Gesicht gesehen.
Bitte, ich bin ungefährlich, ich werde gehen. Bitte, rufen Sie nicht die Polizei.
»Es ist niemand außer mir hier«, rief er ihr hinterher. »Sind Sie sicher, dass Sie nicht eintreten möchten?«
Hannah hielt an und drehte sich zu ihm um, dann sah sie zu den Buntglasfenstern der Kirche hoch. Mehr als alles andere auf der Welt hätte sie gern ja gesagt, um über die Schwelle in dieses Leuchten zu treten und womöglich Gnade zu finden. Ihr fiel wieder ein, wo sie diesen Akzent schon einmal gehört hatte, dieselbe nasale, aristokratische Artikulation, und auch wenn sie sich nicht bewusst war, eine Entscheidung getroffen zu haben, spürte sie plötzlich, wie ihre Beine sie in die Richtung des breiter werdenden Lichtstreifens trugen.
Und dann taten ihre Beine das genauso plötzlich nicht mehr, weil ihre Füße auf einer vereisten Stelle ausgerutscht waren und es ihr die Beine weggezogen hatte und sie hart auf ihrem Hinterteil gelandet war. Der Schmerz war heftig, fast so schlimm wie damals, als sie von dem Magnolienbaum gefallen war und sich das Handgelenk gebrochen hatte. Verwirrt fragte sie sich: Kann man sich den Hintern brechen? Sie musste lachen und gleichzeitig weinen, und die Schluchzer wurden heftiger und lauter und gingen in ein Heulen über. Obwohl sie sich bewusst war, dass sie sich selbst in große Gefahr brachte – bei einer hysterischen Verchromten auf der Schwelle würde jeder die Polizei verständigen –, konnte sie einfach nicht damit aufhören. Die Angst, die Unsicherheit und die Traurigkeit der letzten Tage brachen aus ihr heraus in die schneegeladene Luft und wurden von ihrer weißen Pracht absorbiert.
Ein Gesicht schwebte über ihr. Eine Hand streichelte sanft ihre Wange, einmal, zweimal. Hannah blinzelte, und ihre Hysterie mündete nach und nach in einen Schluckauf. Sie registrierte Falten, kurzes graues Haar, freundliche Augen. Ein hochgeschlossenes schwarzes Hemd mit einem weißen Rechteck in der Mitte. Ein Priester. Ein Priester, so wurde ihr klar, der kein Mann, sondern eine Frau war. Eine Frau, die mit forscher Sanftheit Schnee und Tränen aus Hannahs nach oben gerichtetem Gesicht strich und zu ihr mit einer Stimme, die die Stimme von Präsident John F. Kennedy hätte sein können, sagte:
»Geht es dir besser, Kleine?«
»Ich weiß nicht. Ich bin auf meinen Hintern gefallen. Hart. Hick! «
Ihre Retterin – schon wieder eine Retterin – lachte. »Ja, das tun wir alle von Zeit zu Zeit.«
Die Priesterin zog Hannah hoch und stöhnte leicht vor Anstrengung. Für einen winzigen Moment war Hannah wieder im Zimmer des Motels und wurde von Simone aus dem Bett gehoben. Erst als Hannah stand, sah sie, wie klein die Frau war und wie unpassend gekleidet. Sie trug keinen Mantel, nur ein Baumwollhemd und Hosen, und sie zitterte vor Anstrengung oder Kälte oder beidem zusammen. Hannah stand jetzt aufrecht und konnte sich allein halten, und die Priesterin gab ein leises Stöhnen von sich. »Lass uns reingehen, oder?«, sagte sie. »Väterchen Frost hat ganz schön zugeschlagen.«
Pastorin Easter – »Ja, das ist der Name, mit dem ich auf die Welt gekommen bin, Gott kann schon raffiniert sein, wenn Er will, dass du etwas Bestimmtes tust« – führte Hannah einen Flur entlang in ein kleines, mit dunklen Holzpaneelen verkleidetes Büro, setzte sie in einen Sessel und legte eine handgestrickte Wolldecke über sie, bevor sie davonwuselte, um eine Stärkung für sie beide zu holen. Hannah saß schlaff
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