Die Geächteten
existieren, ist es das?«, bot die Priesterin an.
Hannah nickte, und Pastorin Easter sagte: »Ein Katholik würde sagen, dass dein erster Fehler darin liegt, Gott zu hinterfragen. Er würde sagen, dass Glaube blind sein muss und absolut, sonst sei es kein Glaube. Wäre ich eine Katholikin, würde ich eine Ordenstracht tragen und keinen Kragen, und meine Meinung zu derart bedeutenden Glaubensfragen würde überhaupt nicht zählen.« Sie nahm einen Schluck Tee und beobachtete Hannah mit gehobenen Brauen. »Irgendwie habe ich das Gefühl, dass du mit solch einer Art von Glauben sehr vertraut bist.«
»Ja, das stimmt, aber ich bin … ich war keine Katholikin.«
Pastorin Easter machte eine wegwerfende Geste. »Es ist Gott egal, wie wir uns nennen, ja sogar wie wir Ihn bezeichnen. Wir sind die Einzigen, die das wichtig nehmen. Doch als Episkopalin und nicht als Evangelikale«, sagte sie mit einem wissenden Blick auf Hannah, »möchte ich deine Frage mit einer Gegenfrage beantworten, beziehungsweise mit einem ganzen Bündel anderer Fragen. Wie würdest du das Wunder eines schlagenden Herzens, das Mitleid Fremder, die Existenz von Mozart und Rilke und Michelangelo erklären? Wie würdest du Mammutbäume und Kolibris erklären, wie Orchideen und Nebel? Wie kann solche Schönheit ohne Gott existieren? Und wie können wir das alles ohne Gott sehen und wissen, dass es schön ist, und davon bewegt sein?«
Durch Hannah ging ein Ruck der Erkenntnis. Doch dann lehnte sie mit einem Achselzucken den ihr gereichten Köder ab. »Vielleicht ist Schönheit ganz einfach nur da«, sagte sie. »Vielleicht lässt sie sich einfach nicht erklären.«
Pastorin Easter strahlte mit dem Stolz eines Lehrers, dessen Schüler gerade eine besonders schwierige Aufgabe gelöst hatte. »Eine angemessene Definition des Allmächtigen, wolltest du das sagen?«
Hannah biss sich auf die Lippe, schaute in ihren fast leeren Becher und wirbelte den Rest Flüssigkeit herum.
»Du darfst nicht aufhören zu denken und Fragen zu stellen, um an Gott zu glauben, Kind. Wenn Er eine Herde von acht Milliarden Schafen hätte haben wollen, dann hätte Er uns keine opponierbaren Daumen, geschweige denn einen freien Willen gegeben.«
Hannah starrte auf den Wirbel in ihrem Becher, ihre Gedanken waren ein heilloses Durcheinander. Man hatte sie gelehrt, dass der freie Wille eine Illusion sei, dass Gott einen Plan mit ihr und jedem anderen Menschen habe, ein vorbestimmtes Schicksal. Doch wenn dies wahr wäre, dann hätte Er gewollt, dass sie schwanger werden und ihr Kind abtreiben lassen würde, dann hätte Er gewollt, dass sie verchromt, verachtet und erniedrigt, gekidnappt und fast vergewaltigt worden wäre. Plötzlich verstand sie, dass dies der Kern ihres Glaubensverlustes war: eine Abneigung, an einen Gott zu glauben, der so gleichgültig oder grausam war.
Und trotzdem. Es war auch Gutes dabei gewesen, Freundschafts- und Liebesgeschenke: Kayla, Paul, Simone, die Nachrichten von Aidan, der Fremde auf dem Motorrad und jetzt diese barmherzige, verständnisvolle Priesterin. Hannah war nicht von den Faustkämpfern gequält worden, war nicht vergewaltigt oder von der Polizei gefasst worden. War es Gottes Werk oder das Ergebnis ihrer eigenen Wahl – die Geliebte Aidans zu werden, abtreiben zu lassen, die Straße einzuschlagen, die die Novembristen ihr anboten, mit Simone zu schlafen? Was sollte das alles gewesen sein, wenn nicht die Ausübung eines freien Willens? Sie drückte Daumen und Zeigefinger gegen die Schläfen, fühlte sich völlig konfus und absolut erschöpft. Wie konnten Vorherbestimmung und freier Wille nebeneinander existieren?
»Es ist schon spät, und ich merke, dass du müde bist«, sagte die Priesterin freundlich. Ich möchte dir nur noch eine Frage stellen. Du musst sie nicht beantworten, wenn du nicht willst.«
Hannah erwiderte den Blick der älteren Frau und bereitete sich darauf vor zu sagen: Weil ich abgetrieben habe .
»Ich weiß, warum ich heute Nacht hier bin«, sagte die Priesterin. »Weißt du es auch?«
»Nein«, sagte Hannah. Eine Lüge, doch wenn sie die Worte – Ich bin gekommen, um Ihn zu finden – ausgesprochen hätte, dann hätte sie entsprechend handeln müssen, hätte das Schutzschild ihrer Skepsis ablegen und sich einen Weg durch das Wirrwarr ihrer Zweifel und Ängste, Misserfolge und Sehnsüchte bahnen müssen. Was wäre, wenn sie dafür keine Kraft mehr hatte? Was, wenn sie all ihre Kraft zusammennahm, doch am Ende der Reise
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