Die Geächteten
keine Gnade auf sie wartete? Was, wenn sie Gnade fand, aber sich in diesem Prozess selbst verlor?
»Wenn du dein Herz ausschütten möchtest, ich höre dir zu.« Pastorin Easter neigte leicht den Kopf und wandte sich von Hannah ab. Eine einladende Geste, damit sie beichten und die Absolution empfangen konnte. Was wäre es für eine Befreiung, könnte sie all die Last abwerfen und diese der Priesterin und Gott überreichen! Doch sosehr sie es sich auch wünschte, es fühlte sich im Augenblick zu leicht und überwältigend hart an.
»Ich kann nicht. Es tut mir leid.«
Pastorin Easter wandte sich ihr wieder zu. »Es gibt nichts, wofür du Abbitte leisten musst. Wenn du bereit bist, wirst du es wissen.«
Sie standen auf, und Hannah zuckte vor Schmerzen zusammen. »Du solltest ein Aspirin nehmen und etwas Eis darauf legen, wenn du dort, wo du hin möchtest, angekommen bist. Kohlblätter helfen auch bei Schwellungen.«
Hannah musste bei der Vorstellung lächeln, wie sie mit Kohlblättern in der Unterhose umherging. »Danke, das werde ich.«
Als sie vor der Seitentür standen, fragte die Priesterin: »Kann ich dich irgendwo hinfahren?«
»Nein, ich habe es nicht weit.«
Pastorin Easter beobachtete sie mit zur Seite geneigtem Kopf, als versuchte sie sich die Worte eines Liedes in Erinnerung zu rufen. »Das kann sein«, sagte sie schließlich. »Es kann aber auch sein, dass du eine größere Entfernung zurücklegen musst, als du denkst. Doch welcher Weg auch immer, du wirst dort am Ende ankommen.«
Hannah beugte sich vor und gab ihr einen schnellen, ungestümen Kuss auf die Wange. Unfreiwillig versteifte sich die Priesterin, und Hannah wusste, dass es ihr unangenehm war, weil sie nicht an Berührungen gewöhnt war. War sie einsam? Hatte sie jemals ihre Wahl bereut?
»Darf ich dich segnen, bevor du gehst?«, fragte sie Hannah mit leicht gerötetem Gesicht.
Hannah nahm ihre Hand, wobei sie den leichten Widerstand ignorierte, legte sie in ihre Hände und drückte sie. »Das ist nicht nötig, Pastorin. Das haben Sie bereits getan.«
Auf ihrem Weg zu Aidans Haus traf sie keinen Menschen mehr. Sie war völlig allein, die einzige Bewohnerin eines unheimlichen weißen Universums, eines stillen Universums, abgesehen vom Knirschen ihrer Stiefel im Schnee.
Sie hatte Angst, als sie das Tor erreichte, und Angst, als sie an die Hintertür kam. Doch beide waren, wie Aidan es versprochen hatte, nicht abgeschlossen. Sie trat in eine wundervolle Wärme hinein. Verschwenderisch, doch Aidan hatte die Heizung für sie angelassen. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckte sie auch die Taschenlampe an der Wand. Sie ging an, als sie sie aus der Fassung nahm, und brachte einen kleinen, schmalen Raum mit Stiefeln, Schirmen und Mänteln, die an Haken hingen, zum Vorschein. Ein Haken war leer, und dort hängte sie ihre eigene Jacke hin, zwischen einen großen Übermantel aus Wolle und einen kleineren hellblauen. Die Ironie dieses Arrangements war ihr nicht entgangen, doch im Augenblick war sie zu schwach, um ihm weitere Beachtung zu schenken.
Sie zog ihre Stiefel aus und ging in Strümpfen im Haus umher, warf einen kurzen Blick in die große Küche, in ein förmliches Wohnzimmer und in einen Raum für die Familie. Sie kam zur Treppe und ging nach oben. Sie fühlte sich wie ein Einbrecher in einem alten Film und zuckte bei jedem protestierenden Quietschen des alten Holzes zusammen. Vom Korridor ging ein halbes Dutzend Türen ab. Sie zögerte, bevor sie den Griff der ersten Tür herunterdrückte. Sie hoffte, dass dies nicht das gemeinsame Schlafzimmer wäre. Sie wollte es nicht sehen, wollte nicht, dass sich seine Besonderheiten in ihrem Hirn manifestierten: der antike oder moderne Holz- oder schmiedeeiserne Rahmen des übergroßen Bettes, in dem Alyssa und Aidan schliefen, die Blumen, die Baumwolle oder das Leinen der Bettoder Tagesdecke oder der selbst gemachte Quilt, der das Bett zierte, das blassrosa oder gelbe Baumwoll- oder Seiden- oder Kaschmirkleid, das sorgfältig auf der Chaiselongue oder am Fußende des Bettes ausgebreitet lag, die beiden Slipperpaare aus Satin oder Leder oder Filz auf jeder Seite des Bettes, sauber aufgestellt, auf ihre und auf seine Füße wartend.
Sie öffnete die erste Tür und fand ein Büro voller Bücher. Als sie hineinging, umhüllte sie Aidans Geruch und löste sogleich einen Schmerz aus, ein dumpfes Stechen ähnlich einem nagenden Hungergefühl. Die Versuchung, in diesem Heiligtum
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