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Die Geburt Europas im Mittelalter

Die Geburt Europas im Mittelalter

Titel: Die Geburt Europas im Mittelalter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Entfaltung kamen, hatten sich dennoch durchgesetzt, aber die bäuerlichen Reigentänzewaren selten geworden. Der Totentanz vereinigte die Laienkultur mit der kirchlichen Sichtweise. Er zeigte, dass Tanzen eine unheilvolle Belustigung war, dass die Gesellschaft sich tanzend ins Verderben stürzte und nicht einmal Satan brauchte, um den Reigen anzuführen. Das Europa des Totentanzes war ein Europa der Unvernunft. So entspann sich der rote Faden der verrückten Jahre, der sich durch die lange europäische Geschichte zieht.
    Der Totentanz bedeckte die Mauern im christlichen Europa des 15. Jahrhunderts. Das erste große Meisterwerk entstand 1425 auf der Mauer des Pariser Friedhofs Aux Saints Innocents. Schon 1440 fand dieses Fresko eine Nachahmung auf der Friedhofsmauer von Saint Paul’s in London, und der große Maler Konrad Witz stellte einen Totentanz auf der Kirchhofsmauer des Dominikanerklosters in Großbasel dar; ein anderer wurde in Ulm gemalt, auch in der Lübecker Marienkirche wurde ein großer Totentanz geschaffen, und ein weiterer um 1470 in La Chaise-Dieu. Am erstaunlichsten ist, dass man Totentänze in unscheinbaren Kleinstadtkirchen oder gar in Dörfern findet, so etwa im Querschiff der Kirche von Kernascléden in der Bretagne (zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts), in der Nikolaikirche von Tallinn (Ende des 15. Jahrhunderts), in Beram (Istrien, 1474), Norre Alslev (Dänemark, zwischen 1480 und 1490), Santa Maria in Silvis in Pisogne bei Ferrara (1490), Hrastovlje (Slowenien, 1490), Kermaria (Bretagne, 1490) oder Meslay-le-Grenet (Departement Eure-et-Loir, Ende des 15./Anfang des 16. Jahrhunderts).
Ein Europa der Gewalt
    Außer der übergreifenden Gewalt, die von der Pest, dem Hunger und dem Krieg ausging, haben andere Ereignisse, andere Entwicklungen im Europa des 14. und 15. Jahrhunderts Konflikte und Gewalt hervorgebracht. Auch sie tragen zu dem Bild der Krisen und der Kämpfe bei, die das Ende des Mittelalters kennzeichnen und, wie es scheint, die Entstehung Europas in Gefahr brachten.
    Die Interpretation dieser Phänomene hat zu verschiedenen Hypothesen geführt. Der tschechische Historiker FrantisekGraus, der die Verfolgung der Juden anhand der Pogrome untersucht hat, die in den Zwanzigerjahren des 14. Jahrhunderts mit dem Vorwurf der Brunnenvergiftung einhergingen und in großem Maßstab, vor allem in Mitteleuropa, während der Pest von 1348 auftraten, hat dafür zwei umfassende Erklärungen. Die eine – die nicht neu ist – besagt, dass die Juden als Sündenböcke bestraft wurden. Aber vor allem stellt Graus diese Pogrome in den Rahmen einer globalen Analyse des «14. Jahrhunderts als Krisenzeit», wie er es im Titel seines Buches nennt. Dabei arbeitet er die strukturellen Gefahren der stets von Krisen bedrohten europäischen Ökonomie heraus, strukturelle Konflikte zwischen Bauern und Grundherren, Handwerkern und Kaufleuten, die unter dem Aspekt der langen Dauer ein Licht auf die inneren Risiken werfen, denen Europa immer noch ausgesetzt ist. Darüber hinaus deutet die relative Schwäche der politischen Macht einer Monarchie, die von dynastischen Konflikten erschüttert, von Volksaufständen bedroht und unfähig war, sich ausreichende Steuerquellen zu sichern, auf eine Schwäche der politischen Organe hin, die Europa vielleicht heute noch nicht überwunden hat.
    In seinem wunderbaren Buch
«De grace especial». Crime, état et société en France à la fin du Moyen Age
liefert Claude Gauvard für die französischen Verhältnisse im 14. und 15. Jahrhundert eine andere Erklärung der Gewalt. Er sieht einen Zusammenhang zwischen dem Auftreten einer neuen Art von strafbarem Verhalten, dem
Verbrechen
, das sich von der feudalen Gewalt unterscheidet, und der Entwicklung einer königlichen Ordnungsmacht. Ihm zufolge lässt sich diese Gewalt allgemein als Reaktion auf die Entstehung des modernen Staats erklären, die ihrerseits mit einer zunehmenden Unterdrückung der Kriminalität einherging und die Strafregister anschwellen ließ. So könnten die Archive, die uns Aufschluss über die neuartigen Gewaltakte geben, den Eindruck erwecken, die Verbrechen seien häufiger geworden, während in Wirklichkeit die Repression und die Dokumentation fortgeschritten sind. Enthält nicht auch diese Interpretation mögliche Erklärungsansätze für die heutige Gewalt in Europa? Spezifisch für die mittelalterliche Gesellschaft bleibt, wie Gauvard mit Recht betont, die Bedeutung des
Ehrgefühls
als

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