Die Geburt Europas im Mittelalter
höchstemWert im sozialen Gefüge der damaligen Zeit. Aber das wichtigste unter den Phänomenen der langen Dauer, die im heutigen Europa immer noch wirksam sind, besteht sicher darin, dass die politische Macht – gestern die Monarchie, heute der Staat – auch Vergebung üben muss, wenn sie den Auftrag hat zu strafen. Im Frankreich des 14. und 15. Jahrhunderts äußerte sich diese Bereitschaft zur Vergebung in «Erlassbriefen», die Verurteilten ausgehändigt wurden. Sie sind ein Ausdruck der Gnade, der höchsten Form einer politischen Macht, der gewisse Züge der göttlichen Macht übertragen worden sind. Hier zeichnet sich ein Europa der Unterdrückung und der Gnade ab.
Nun hat der amerikanische Mediävist David Nirenberg vor nicht allzu langer Zeit eine Untersuchung über die Gewalt in Spanien und besonders in den Gebieten der Krone von Aragón in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts vorgelegt, in der er all diese Erklärungen bezweifelt, vor allem die Interpretation der Pogrome als Strafaktionen gegen einen ausgewählten Sündenbock. Nirenberg widmet seine Untersuchung den Verfolgungen und vor allem den Gewaltakten, denen in Spanien die Minderheiten zum Opfer gefallen sind, besonders Juden und Muslime, aber auch Frauen. Für ihn ist «die Gewalt ein zentraler und systemimmanenter Aspekt der Koexistenz von Mehrheit und Minderheit». Demzufolge wäre also die Koexistenz von Mehrheit und Minderheit auf der Iberischen Halbinsel, aber auch in einem großen Teil des übrigen Europa, die Ursache jener Gewalt, die den Zusammenhalt Europas im ausgehenden Mittelalter bedroht zu haben scheint. Was diesen Zusammenhalt am Ende des 15. Jahrhunderts betrifft, kann man jedenfalls zwei Feststellungen treffen: Erstens macht es keinen Sinn, für das damalige Europa von Toleranz oder Intoleranz zu sprechen. Wir haben es vielmehr mit einem Europa zu tun, das sich jenseits der Toleranz ansiedelt, die zwar Fortschritte gemacht hat, aber auch heute in vielen Dingen erst noch geboren werden muss. Die zweite Feststellung ist, dass die Juden aus West- und Südeuropa vertrieben worden sind, aus England schon am Ende des 13. Jahrhunderts, aus Frankreich am Ende des 14. Jahrhunderts und 1492 schließlich von der Iberischen Halbinsel. Das Schlimmste in diesem letzten Fall ist die Tatsache,dass die Vertreibung nicht mehr mit einem religiösen Argument, dem Antijudaismus, begründet wurde, sondern mit einem rassistischen, der
limpieza del sangre
, der Reinheit des Blutes. In Mittel- und Osteuropa wurden zwei andere Lösungen gewählt, entweder die Duldung – auch wenn sie noch nicht so genannt wurde –, die beispielsweise Polen im 14. Jahrhundert sowohl was die Juden als auch was die Hexen anbelangt zu einem «Staat ohne Scheiterhaufen» machte, oder die mit Schutz verbundene Einschließung in Ghettos, wie sie in Italien und in großen Teilen Deutschlands praktiziert wurde. Das ändert aber nichts daran, dass Europa am Ende des Mittelalters die Juden ausgestoßen hat.
Die Hexenverfolgung
. – Eine andere Form der Gewalt entwickelte sich seit dem 14. und vor allem dem 15. Jahrhundert: die Unterdrückung der Hexerei. Die Kirche hatte den Glauben an magische Kräfte immer verurteilt und die Praktiken der Zauberei ebenso bekämpft wie die Personen, die sich ihnen hingaben, die Hexer oder Zauberer. Aber dieser Kampf war angesichts der Ketzerei zweitrangig geworden. Wie wir gesehen haben, war die zu Beginn des 13. Jahrhunderts gegründete Inquisition im Wesentlichen gegen die Ketzerei gerichtet. Dennoch wurde die Hexerei eines ihrer bevorzugten Ziele, und nach dem Abflauen der häretischen Bewegungen der Waldenser und der Katharer rückte sie an die erste Stelle auf. Das geht aus den Handbüchern hervor, die im 14. Jahrhundert zur Anleitung der Inquisitoren verfasst wurden. Es macht sich schon im Handbuch des dominikanischen Inquisitors im Languedoc, Bernardus Guidonis, bemerkbar, und erst recht im
Directorium Inquisitorum
des katalanischen Dominikaners Eymerich Nicolas, das um 1376 verfasst wurde und große Verbreitung fand. Wie Norman Cohn gezeigt hat, löste die Hexe im 15. Jahrhundert den Ketzer als Lieblingsbeute der Inquisitoren ab. Michelet hat die Übertragung der Hexerei auf das weibliche Geschlecht dank seines ausgeprägten Einfühlungsvermögens sehr gut erfasst, obwohl er von einem Text ausging, der sich als apokryph erwiesen hat. Es war also die Hexe, die europaweit in den Vordergrund der Bühne trat, wo sie bis
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