Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Geburt Europas im Mittelalter

Die Geburt Europas im Mittelalter

Titel: Die Geburt Europas im Mittelalter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
Vom Netzwerk:
Landhäuser – eine Form des Kampfes gegen die Pest, die natürlich nur den Eliten möglich war. Der Schwarze Tod verschärfte die gesellschaftlichenKonflikte, die Nöte der Armen, und bereitete den Boden für eine soziale Gewalt, auf die wir noch zu sprechen kommen werden.
    Die Obrigkeiten, insbesondere die Städte und an erster Stelle die italienischen, ergriffen ein Bündel von Maßnahmen, darunter Vorschriften zur Reinlichkeit, die im Bereich der Hygiene bemerkenswerte Fortschritte ermöglichten. Sie erließen auch Gesetze gegen den zur Schau gestellten Luxus der Reichen, der als Provokation empfunden wurde und von dem zu befürchten war, er könne den Zorn und die Strafe Gottes herausfordern. Im Übrigen brachte die Pest neue Formen der christlichen Frömmigkeit hervor, besonders die Anrufung bestimmter Heiliger, die sich in ganz Europa einen großen Ruf als Pestheilige erwarben: so der hl. Sebastian, dessen Attribut – die Pfeile, von denen er getroffen war – als die Plagen des 14. Jahrhunderts gedeutet wurde, oder, im westlichen und südlichen Europa, der hl. Rochus.
Der Tod, der Leichnam und der Totentanz
    Die Pest nährte auch eine neue Empfindsamkeit und eine neue Religiosität. Bis dahin hatten die Menschen im Angesicht des Todes vor allem die Hölle gefürchtet. Jetzt richtete sich diese Angst auf das Sterben selbst, dessen sichtbar gewordenes Grauen den Höllenqualen um nichts nachstand. Gewiss, die Angst vor der Hölle bestand, wie die Ikonographie bezeugt, auch über die Mitte des 14. Jahrhunderts hinaus, obwohl es Jean Delumeau zufolge eine gewisse Tendenz gab, die Schrecken der Hölle durch die Wonnen des Paradieses auszugleichen. Dennoch war es in erster Linie der Leichnam, der, wenn man so sagen darf, von der neuen Empfindsamkeit gegenüber dem Tod profitierte.
    Die Begegnung mit dem Tod, oft in Gestalt eines Skeletts, war um die Mitte des 14. Jahrhunderts ein verbreitetes ikonographisches Motiv. Die Darstellungen der «Drei Lebenden und drei Toten» zeigen in der Regel drei schöne, fröhliche, unbeschwerte junge Leute im Angesicht von drei Skeletten, meistens in Särgen auf dem Friedhof. Ein Thema, das im ganzen christlichen Europa eine wichtige Rolle gespielt hatte, gewannmit der Pest außerordentliche Bedeutung: die Unvermeidlichkeit des Sterbens. Das
Memento mori
, «bedenke, dass du sterben wirst», wurde zur Grundlage der Frömmigkeit, der Lebensführung und des Denkens. Es brachte berühmte Abhandlungen über die
ars moriendi
, die Kunst des Sterbens, hervor, denen der italienische Historiker Alberto Tenenti eine hervorragende Untersuchung gewidmet hat. Im 16. Jahrhundert fasste Montaigne diese Art der Beschäftigung mit dem Tod in dem Satz zusammen: «Philosophieren heißt sterben lernen.» So verbreitete sich in ganz Europa ein ikonographisches Thema, das auch ein Gefühl und eine Philosophie wiedergab: das Makabre. Eine seiner spektakulärsten Ausdrucksformen war die Darstellung des verwesenden Leichnams großer Persönlichkeiten auf deren Gräbern. In Frankreich entstand das berühmteste Werk dieser Art, auf Französisch
transi
genannt, um 1400 am Grab des Kardinals Jean de Lagrange. In ganz Europa sind 75 Verwesungsfiguren aus dem 15. Jahrhundert bekannt.
    Italien hat im 14. Jahrhundert ein anderes ikonographisches Thema bevorzugt, den «Triumph des Todes», dessen grandiose Darstellung im Campo Santo in Pisa 1350 geschaffen wurde, zwei Jahre nach dem Ausbruch der Schwarzen Pest. Noch häufiger wählten die Künstler zwei andere Motive: die oft als Totenkopf dargestellte
Vanitas
, die während der ganzen Renaissance bis in den Barock hinein ein beliebtes Thema blieb; und zum anderen den
Totentanz
, der die Kunst und Empfindsamkeit des 15. Jahrhunderts charakterisiert.
    Das Bemerkenswerte am Totentanz ist sowohl der Personenkreis, der an dem Reigen teilnimmt, als auch die Ausdrucksform selbst. Während der Leichnam im Wesentlichen ein individuelles Bild des Todes liefert, stellt der Totentanz die gesamte Gesellschaft mit Vertretern aller sozialen und politischen Schichten dar. Angeführt von Papst und Kaiser, reiht sich die ganze Menschheit ein, vom König bis zum Adligen, dem Bürger und dem Bauern. Sogar die Frauen tanzen mit. Der andere bemerkenswerte Aspekt ist der Tanz selbst. Die Kirche hatte das Tanzen, das für unsittlich, frivol oder gar heidnisch erachtet wurde, streng verboten. Die höfischen Tänze, die allerdings erst im 16. und 17. Jahrhundert zur vollen

Weitere Kostenlose Bücher