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Die Geburt Europas im Mittelalter

Die Geburt Europas im Mittelalter

Titel: Die Geburt Europas im Mittelalter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Hussiten
    Im Lauf des 14. und 15. Jahrhunderts versiegten die großen Ketzerbewegungen der vorangegangenen Zeit. Die Katharer verschwanden nach und nach; die Waldenser überdauerten nur in isolierten kleinen Gruppen, besonders in den Alpentälern und in manchen unzugänglichen Regionen Norditaliens. Aber es traten andere, «moderne» Häresien auf, die direkt auf die protestantische Reformation des 16. Jahrhunderts hindeuten. Die wichtigsten waren die Lehre von John Wyclif und seinen Anhängern, den Lollarden, die im 14. Jahrhundert in England Verbreitung fand; sowie die nach Johannes Hus benannte Bewegung der Hussiten, die zu Beginn des 15. Jahrhunderts in Böhmen um sich griff. John Wyclif (um 1320–1384) war ein Doktor der Theologie aus Oxford. Er griff den alten Gedanken auf, dass die Gültigkeit der Sakramente nicht durch das Amt dessen, der sie spendet, vermittelt werde, sondern durch den Stand der Gnade, in dem der Spender sich befinden müsse. Die von unwürdigen Priestern gespendeten Sakramente hielt er daher für unwirksam. Darüber hinaus wollte er nur diejenigen Komponenten der christlichen Religion als bindend anerkennen, die unmittelbar aus der Bibel hervorgingen. Damit sprach er allen Entscheidungen der Kirche, die auf eine nicht durch die Heilige Schrift verbürgte Tradition zurückgingen, ihre Gültigkeit ab. So verwarf er die Verehrung von Bildern ebenso wie Wallfahrten oder Ablässe für die Verstorbenen. Am Ende seines Lebens begann er, eine radikale Auffassung vom Abendmahl und der Transsubstantiation zu predigen und griff vermehrt das Mönchtum an, dessen Glaubensvorstellungen er für «Privatreligionen» erklärte.
    Wyclifs Lehrsätze über die Eucharistie wurden 1380 in Oxford und 1382 in London verurteilt. Es kursierte das Gerücht, er habe dem Bauernaufstand von 1381 geistig den Weg bereitet oder ihn sogar offen unterstützt. Unter dem Aspekt der langen Dauer kommt seiner Bibelübersetzung in die englische Volkssprache sicher die größte Bedeutung zu. Aber auch Wyclifs Ideen wurden nach seinem Tod weiter verbreitet, vor allem in Oxford. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts waren sie Gegenstandverschiedener Kontroversen und hielten sich mehr oder weniger, bis sie teilweise in der protestantischen Reformation des 16. Jahrhunderts wieder auftauchten.
    Schon am Ende des 14. Jahrhunderts hatte Wyclif Anhänger gefunden, die so genannten «Lollarden», ein Synonym für Bettler, das als Schimpfwort für religiöse Außenseiter gebraucht wurde. In der Folgezeit wurden Wyclifs Schüler so genannt, Prediger aus Oxford, denen sich andere «arme Priester» anschlossen. Ihr Einfluss reichte in die höchsten Sphären von Politik und Gesellschaft, wo sie hinreichend Unterstützung fanden, um Wyclifs Bibelübersetzung zu verbreiten und radikale Projekte anzuregen: so etwa Pläne zur Säkularisierung der geistlichen Besitztümer, die das Parlament 1410 in Form einer Beschlagnahmung aller bischöflichen und monastischen Güter auf die Tagesordnung setzte. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts wurden die Lollarden grausam verfolgt und viele von ihnen zum Scheiterhaufen verurteilt, aber sie wirkten noch bis ins 16. Jahrhundert hinein.
    Die andere große, zunächst verdeckt, dann offen häretische Bewegung wurde von Johannes Hus (1370–1415) in Böhmen entfacht. Student und später Magister an der jungen Prager Universität, geriet Hus ins Zentrum der immer heftiger werdenden Konflikte zwischen tschechischen und deutschen Universitätsangehörigen, die sowohl die berufliche als auch die ethnische Ebene betrafen. Von 1409 bis 1410 hatte er das Amt des Rektors inne. In seinem Unterricht verbreitete er ein Gedankengut, das Einflüsse von Wyclif verriet. Während auf deutscher Seite die nominalistische Theologie herrschte, lehrte er einen radikalen Realismus. Er behauptete, es gebe Universalien im Geist Gottes, und die Ideen seien transzendente Realitäten. Da er seit 1402 regelmäßig auf Tschechisch in der Prager Betlehemskapelle predigte, verbreiteten sich seine Auffassungen weit über das universitäre Milieu hinaus. Er forderte eine moralische Reform der Kirche und strengen Gehorsam gegenüber dem Wort Gottes, so dass ein Konflikt mit der Kirchenleitung nicht ausblieb. Gemeinsam mit seinen tschechischen Kollegen erwirkte Hus beim böhmischen König den Erlass des Kuttenberger Dekrets (1409), in dessen Folge die deutschen Magister und Studenten aus der Prager Universität auszogenund nach Leipzig

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