Die Geburt Europas im Mittelalter
Alpen gehörten die Studenten den übergeordneten Nationen der «Citramontanen» oder der «Ultramontanen» an, von denen die erste in drei
subnationes
(Lombarden, Toskaner und Sizilianer) unterteilt war, während die zweite aus dreizehn Nationen bestand, die in etwa den verschiedenen Königreichen und politischen Formationen der Christenheit entsprachen. In Paris trat das System der Nationen 1222 auf. Hier beschränkte es sich jedoch auf die Artistenfakultät, an der es vier Nationen gab: Normandie, Picardie, Frankreich und eine englisch-deutsche Nation. Dieses Beispiel macht deutlich, dass man eine mittelalterliche Universitätsnation keineswegs mit einem gemeinsamen nationalen Ursprung ihrer Mitglieder gleichsetzen kann. In Paris umfasste die französische Nation die Lehrer und Studenten aus sämtlichen Mittelmeerländern, und die im 15. Jahrhundert sehr bedeutende englisch-deutsche Nation erscheint uns als regelrecht hybrid, obwohl sie nach den mittelalterlichen Normen sehr gut funktionierte. Im Gegensatz dazu hatten die tschechische und die deutsche Nation in Prag eine klare ethnische Zusammensetzung, die, wie wir gesehen haben, zu heftigen Spannungen und schließlich zur Abwanderung der deutschen Nation geführt hat.
Auch die großen Konzilien, die am Anfang des 15. Jahrhunderts stattfanden, insbesondere das von Konstanz, benutzten und verbreiteten die Einteilung in Nationen, wobei jede Konzilsnation verschiedene Länder zusammenfasste, die durch ihre geographische Lage, ihre Geschichte oder ihre Sprache mehr oder weniger miteinander verbunden waren. Der alten Bedeutung nach war die Nation also eine ursprüngliche Form der räumlichen und gesellschaftlichen Organisation innerhalb Europas. Das gleiche Prinzip kam im Rahmen der europäischen Expansion außerhalb Europas zur Geltung. Die europäischen Handelsvertreter, die in Kontoren oder auf Märkten im Ausland tätig waren, fassten die Kaufleute aus ein und derselben Stadt oder einer bestimmten Region in Nationen zusammen, als deren Vertreter und Berater sie wirkten.
Politische Prophezeiungen
Ein Phänomen, das dem Nationalgefühl recht nahe kommt, ist die politische Prophetie, die sich im 14. und 15. Jahrhundert starken Ausdruck verschaffte. Dank der Vertiefung in die Lektüre des Alten Testaments pflegten die mittelalterlichen Gelehrten den Propheten und den politischen Aspekten ihrer Prophezeiungen große Bedeutung beizumessen. Für die Verbreitung dieses Interesses war Colette Beaune zufolge «das 14. Jahrhundert entscheidend». Die meisten der europäischen Nationen und großen italienischen Städte legten sich ihren eigenen Prophetismus zurecht. In Frankreich sagte eine Prophezeiung voraus, ein König
«Karolus filius Karoli»
werde mit dreizehn Jahren die Macht ergreifen, Siege über die Aufrührer, dann über die Engländer davontragen und beide Kaiserkronen in Rom und in Jerusalem empfangen, ehe er das Heilige Land zurückerobern und in Jerusalem sterben werde. In Spanien war Ferdinand von Aragón der Held von Voraussagen, die seinen endgültigen Sieg über die Mauren und die Gründung einer neuen Welt ankündigten. «Am Ende des 15. Jahrhunderts ist die Prophetie allgegenwärtig», schreibt Colette Beaune. «Sie rechtfertigt die Italienzüge und schickt Kolumbus auf Entdeckerfahrt über die Ozeane. In dieser mittelalterlichen Welt, die den Fortschrittsgedanken schwer fassen kann, ist die Prophezeiung eines der wenigen Mittel, eine Zukunft zu denken, die schon geschrieben steht.» Die politischen Prophezeiungen beschwören ein siegreiches und dominierendes Europa herauf, das Europa der modernen Zeiten. Ich teile nicht die Meinung von Historikern wie Mikhail Bakhtine, die behaupten, zwischen der beginnenden Renaissance und dem Mittelalter bestehe ein Gegensatz wie zwischen Karneval und Fasten, Lachen und Weinen. Das Mittelalter als die Periode, in der die Werte vom Himmel auf die Erde herabgestiegen sind, hat den Menschen auch irdische Freuden beschert. Das jüngst erschienene, prachtvoll illustrierte Gemeinschaftswerk
Le Moyen Age en lumière
legt davon beredtes Zeugnis ab.[ 13 ]
Die Buchdruckerkunst
Während Europa im 15. Jahrhundert von einer glorreichen Zukunft träumte, öffnete es sich gleichzeitig einer verheißungsvolleren und vor allem ganz irdischen Kultur. Die Entdeckung des Buchdrucks sollte eine beträchtliche Erweiterung der Lesekultur zur Folge haben, einen Triumph der Schrift und des Buches. Die ersten Druckformen der
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