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Die Geburt Europas im Mittelalter

Die Geburt Europas im Mittelalter

Titel: Die Geburt Europas im Mittelalter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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habe ich versucht, den ikonographischen Ausdruck dieser Öffnung einzufangen. Ich beschränke mich hier auf eine kurze Wiedergabe. Zuerst ist eine Aufwertung des
Kindes
zu beobachten, das bis zum 13. Jahrhundert übergangen worden war – nicht im Alltagsleben, wo es auch im Mittelalter als das unvergängliche Liebesobjekt der Eltern galt, sondern in dem von Philippe Ariès so gut herausgearbeiteten Sinne eines Wertes. Befördert durch das neue Interesse am Jesuskind, nach dessen Kindheitsgeschichten hingebungsvoll in den vermehrt auftretenden apokryphen Evangelien gesucht und das Gegenstand kultischer Verehrung wird, tritt das Kind als schönes und betörendes Wesen in Erscheinung, das freudig, oft schalkhaft sein Spielzeug vorführt und das Reich der Engel mit pausbäckigen Putten füllt. Mit dem Kind festigt sich die Stellung der Frau. Während der Marienkult für die allgegenwärtige Verbreitung der Marienbilder sorgt, ob als Pietà oder barmherzige Jungfrau, kehrt Eva, die als gefährliches Weib in den Hintergrund verbannt worden war, in den Vordergrund zurück und bekräftigt die verführerischen Reize der irdischen Frau, wobei sich die Schönheit ihres Gesichts mit dem Antlitz der schönen Madonnen messen kann.
    Neu und zu ungewöhnlichem Erfolg berufen ist vor allem das
Porträt
, das zu Beginn des 14. Jahrhunderts auftaucht: ein Ergebnis der wachsenden Bedeutung des Individuums und einer neuen, als Realismus bezeichneten Darstellungsart. Porträtiert werden Lebende wie Tote. Die Liegefiguren der
Gisants
weisen nicht mehr das konventionelle Antlitz auf, sondern erhalten ein «reales» Gesicht. Die ältesten Porträts stellenMächtige dar, Päpste, Könige, Lehnsherren und reiche Bürger, bevor eine Demokratisierung der Porträtmalerei einsetzte. Auch die Erfindung der Ölmalerei und die Entwicklung der Tafelmalerei im 15. Jahrhundert kommen dem Porträt zugute, das aber dennoch auf den Fresken seinen Ehrenplatz behält. In Europa wird die Porträtmalerei erst im 19. Jahrhundert teilweise von der Fotografie abgelöst.
    Dieses aufblühende Europa öffnet sich auch der
Gastronomie
mit einem neuen Luxus an Speisen, die festlichen Bankette mehren sich. Ein mythisches Beispiel ist das große, als
Banquet du Faisan
bekannte Gastmahl, das Philipp der Gute 1454 in Lille organisierte. Um die gleiche Zeit erobert das
Spiel
das Gesellschaftsleben über die aristokratische Welt hinaus. Nach dem Würfelspiel kommt zu Beginn des 15. Jahrhunderts das Tarockspiel in Mode. Europa öffnet sich dem Kartenspiel, und bald nehmen Wetten überhand, vor allem in England. Nach den Verheerungen der Pest kehrt Europa zu den ritterlichen Träumen zurück, zu dem, was Johan Huizinga den «herben Reiz des Lebens», das «Streben nach einem schöneren Leben», den «Traum von Heldentum und Liebe» oder den «Traum vom idyllischen Leben» nennt. Es ist ein Europa, das nicht nur Totentänze veranstaltet, sondern mehr und mehr festliche Tänze zu einer Musik, die, im 14. Jahrhundert durch die
ars nova
erneuert, sehr feine rhythmische Ausdrucksformen gewinnt und alle Mittel der Stimme und der Musikinstrumente ausschöpft. Ein tanzendes, singendes und musizierendes Europa bestätigt sich selbst.
Florenz, die Blüte Europas?
    Der brillanteste Ausdruck dieses Erblühens findet sich im Florenz des 15. Jahrhunderts. Hier beginnt, was man die Renaissance nennen wird. Florenz liefert im 15. Jahrhundert das berühmteste Beispiel für die Entwicklung des italienischen Stadtstaats zur aufgeklärten Tyrannei. Es ist das Werk der großen Familien der Kaufleute-Bankiers, und an erster Stelle der Medici. Diese Entwicklung ist nicht zukunftweisend für die Politik in Europa. Die Zukunft wird Staaten wie England, Frankreich oder Kastilien gehören. Aber die despotischenStadtregimente fördern die neue Kunst. Die mächtigen Familien, die diese Städte und Stadtstaaten vor allem in Italien regieren, sind große Mäzene.
    Noch vor Lorenzo dem Prächtigen, der dem Mäzenatentum sein dichterisches Talent hinzufügte, spielte sein Großvater Cosimo, der Florenz von 1434 bis 1464 beherrschte, eine wesentliche Rolle. Cosimo legte eine Sammlung von antiken Statuen, Edelsteinen, Münzen und Medaillen an, und er richtete Bibliotheken ein, von denen allein seine eigene 400 Bände umfasste, die er in ganz Europa und im Orient kaufen oder kopieren ließ. Er entdeckte und unterstützte Marsilio Ficino, den Sohn seines Leibarztes, bezahlte ihm das Studium und

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