Die Geburt Europas im Mittelalter
schwer bewaffnete Ritter, die Laster dagegen als eine wilde Schar heidnischer Krieger. Die Welt der Sünde wird mehr denn je von Angriffen des Teufels beherrscht, dem «Feind der Menschheit», der sich in dieser Zeit, in der er große Popularität erreicht und zunehmend Ängste schürt, entfesselt. Während das im frühen Mittelalter von der Kirche verbannte Theater noch nicht auf die Bühne zurückgekehrt ist und der Tanz als diabolisches Treiben gilt, entfesselt sich in der Seele des Christen ein wildes Spiel, das den Versuchungen und Angriffen des Teufels und seiner Soldaten, der Dämonen, unterworfen ist. Satan führt den Reigen an. Das Böse kann sich sogar in den menschlichen Körper einschleichen, ihn in Besitz nehmen. Die Äußerungen der Besessenheit sind Vorfahren jener Krankheiten, denen am Ende des 19. Jahrhunderts Ärzte wie Charcot oder etwas später Psychologen, die wie Freud Psychoanalytiker geworden sind, einen laisierten «wissenschaftlichen» Ausdruck verleihen und die neue Exorzisten auf den Plan rufen. Wie Jérôme Baschet soschön gesagt hat, «die Sphäre des Diabolischen erlaubt den Ausdruck vielfältiger Phantasmen». Der Teufel erschreckt und quält den Menschen mit Erscheinungen, Halluzinationen, Verwandlungen in Tiere und mit Phantasien, immer darauf bedacht, ihn in den Sündenpfuhl zu stoßen und zur Beute der Hölle zu machen. Gewiss, die Kirche organisiert den Kampf gegen den Teufel und die Hölle. Teufelsaustreibungen, Gebete und das Fegefeuer gehören zum Arsenal der Satansbekämpfung. Aber in dieser Welt, in der die Macht stets imperiale Formen hat, ist der Teufel im Begriff, derjenige zu werden, den Dante den
imperador del regno doloroso
nennt.
Die Volkskultur
In der vom Teufel gepeinigten europäischen Christenheit taucht auch eine volkstümliche Kultur auf, oder besser gesagt, sie taucht wieder auf. Die Christianisierung war nicht bis an die Wurzeln aller frisch Bekehrten, insbesondere der Bauern, vorgedrungen. Unter dem Etikett des Heidentums hatte die Kirche eine Sammlung von Glaubensvorstellungen und Verhaltensweisen verurteilt und bekämpft, die teils aus der römischen Antike, teils aus der barbarischen Vergangenheit überkommen waren. Seit dem 11. Jahrhundert, als die Kirche ihren Kampf von den Heiden auf die Ketzer ablenkte und der demographische und wirtschaftliche Aufschwung den Laien größeres Gewicht verlieh, während die feudale Burg ins Zentrum einer kulturellen Entwicklung rückte, die den Grundherrn und die Bauern in ihrer Identität gegenüber dem Klerus erstarken ließ, kam es zur Geburt oder Wiedergeburt einer Volkskultur. Wir kennen sie zumeist aus kirchlichen Texten, die ihrer Verurteilung dienten. Den ersten umfangreichen Katalog der «Superstitionen» liefert das
Decretum
des Burchard von Worms, der den Wormser Bischofssitz von 1000 bis 1025 innehatte und im Detail die sexuellen Perversionen der Bauern, die Zeremonien der Regenbeschwörung sowie allerhand Traditionen im Umgang mit Kindern und dem Tod beschreibt. Ein Beispiel macht deutlich, wie altes heidnisches Brauchtum mit neuen christlichen Sitten zusammentreffen kann: «Wenn ein Kind ohne Taufe gestorben ist, nehmen manche Frauen den Leichnam desKleinen, bringen ihn an einen geheimen Ort und durchbohren den Körper mit einem Pfahl, wobei sie sagen, wenn sie es nicht in eben dieser Weise täten, würde das Kind wieder aufstehen und könnte vielen Böses tun.» Jean-Claude Schmitt hat gezeigt, wie die Angst vor wiederkehrenden Geistern Aberglauben und Riten hervorgerufen hat, in denen sich auch heidnische Geister mit christlichen Geistern vermischen. Seit dem Ende des 12. Jahrhunderts suchte die Kirche das Fegefeuer zu benutzen, um gute und böse Geister zu scheiden.
So entzieht sich die Volkskultur in manchen Bereichen ihrer Zerstörung durch die Kirche, vor allem wenn diese keine ebenso befriedigenden Kulturgüter zu bieten hat, wie etwa beim Tanz oder den maskierten Umzügen. Oft, aber nicht immer, gelingt es, diese Praktiken von den Gotteshäusern fernzuhalten, wenn auch nicht von ihrer Umgebung. Die Legende vom hl. Marcellus von Paris, einem Pariser Bischof aus dem 5. Jahrhundert, der einen Drachen aus der Bièvre tötet – auch dies eine Verchristlichung des alten heidnischen Themas vom Ungeheuer tötenden Helden –, wird noch im 12. Jahrhundert im Rahmen einer Prozession um die Pariser Kirche Notre-Dame dargestellt. Ähnlich fließen in einer Gesellschaft, in der die mündliche
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