Die Geburt Europas im Mittelalter
Wesenszüge, die sich fast bis heute in ganz Europa ohne große Veränderung gehalten haben. Einerseits wird die Ehe endgültig zu einer monogamen Institution, nachdem die Aristokratie faktisch die Polygamie aufrechterhalten hatte, und andererseits gilt sie hinfort als unauflöslich. Es wird schwierig, Ehefrauen zu verstoßen. Der Heilige Stuhl behält sich weitgehend die Entscheidung hierüber vor, wobei im Wesentlichen nur ein Motiv als Ehehindernis anerkannt wird: die Blutsverwandtschaft, die von der Kirche bis in die vierte Generation genauestens definiert und sorgfältig überwacht wird. Damit einhergehend und sicher in Reaktion auf die verschärften Regeln innerhalb der Ehe wird der offenbar zunehmende Ehebruch außerordentlich streng bestraft.
Am wichtigsten scheint mir jedoch die Tatsache, dass die Ehe, die bis dahin ein zivilrechtlicher Vertrag war, mehr und mehr eine religiöse Angelegenheit unter kirchlicher Kontrolle wird. Die «arrangierten» Eheverbindungen gehen zurück, seit die Kirche die Einwilligung beider Partner verlangt – was die Stellung der Frau verbessert, auch wenn die Rolle der Familie und die des Mannes unverändert bleiben. Im 12. Jahrhundert wird die Ehe in die Liste jener Sakramente aufgenommen, die nur von Priestern gespendet werden dürfen. Das wesentliche Kontrollmittel, um die Heirat unter Blutsverwandten zu verhindern, ist das im Jahr 1215 vom vierten Laterankonzil zur gemeinrechtlichen Pflicht erklärte öffentliche Aufgebot in derselben Kirche, in der die Zeremonie stattfinden soll. Doch die Feierlichkeiten der Trauung dringen noch lange nicht vollständigin das Kirchengebäude ein. Bis zum 16. Jahrhundert finden sie größtenteils vor der Kirche und nicht in ihrem Inneren statt.
Die höfische Liebe
Was die Beziehungen zwischen den Geschlechtern betrifft, so hat das Auftauchen neuer Formen der Liebe, im Allgemeinen höfische Liebe oder im engeren Sinne
fin’amor
genannt, besondere Beachtung gefunden. Diese neuen Formen der Liebe orientieren sich am Vorbild der feudalen Riten. Wie wir sehen werden, besteht der grundlegende Ritus des Lehenswesens in der Huldigung, die der Vasall dem Lehnsherrn leistet. Im Fall der höfischen Liebe ist es die Frau, die Dame, die den Platz des Herrn einnimmt, während der Mann ihr huldigt und ihr Treue schwört. Über die Entstehung und Bedeutung der höfischen Liebe ist viel diskutiert worden. So unumstritten das Thema zuerst von den okzitanischen Troubadours behandelt und von der arabischen Liebesdichtung beeinflusst wurde, glaube ich doch, dass man diese Einflüsse nicht überschätzen sollte. Bemerkenswert scheint mir, dass die
fin’amor
und, in geringerem Maße, die höfische Liebe nur außerhalb der Ehe entstehen und sich entfalten können. Ein typisches Beispiel ist die Liebe zwischen Tristan und Isolde – eine Liebe also, die faktisch in Widerspruch zu den kirchlichen Einwirkungen auf die Ehe steht, ja manchmal sogar einen fast häretischen Charakter hat. Aber die große Frage ist, ob die höfische Liebe platonisch war oder sexuelle Beziehungen einschloss, und weiter, ob sie eine reale oder eine imaginäre Liebe war, ob sie sich in der erlebten gesellschaftlichen Wirklichkeit entwickelt hat oder nur in der Literatur? Unbestreitbar hat sie sich auf die realen Liebespraktiken und die realen Liebesgefühle niedergeschlagen. Dennoch bin ich überzeugt, dass sie hauptsächlich ein Ideal war, das wenig in die Praxis eingedrungen ist. Und vor allem war es eine aristokratische Liebe, die sich in den Massen des Volkes kaum verbreitet haben dürfte.
Wichtig und schwer zu entscheiden ist auch die Frage, ob sich die höfische Liebe förderlich auf die Stellung der Frau ausgewirkt hat. Ich würde mich am ehesten den Meinungen von Jean-Charles Huchet und Georges Duby anschließen. NachHuchet ist die
fin
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amor
als eine Kunst erlebt worden, «die Frau durch Worte auf Distanz zu halten». Und Duby hat gesagt: «Die Meister dieses Spiels waren in Wirklichkeit die Männer.» Demzufolge hätte die höfische Liebe den adligen Damen nur eine illusorische Huldigung eingebracht. Aber wir werden sehen, wie es sich mit der Jungfrau Maria und dem Marienkult verhält.
Der höfischen Liebe wurde ein Handbuch gewidmet, das stürmische Erfolge feierte. Es handelt sich um eine Abhandlung über die Liebe,
Tractatus de amore
, von Andreas Capellanus aus dem Jahr 1184. Man kann sagen, dass die höfische Liebe und insbesondere die
fin
’
amor
Teil der Bemühungen
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