Die Geburt Europas im Mittelalter
Tendenz, die Toten in die Städte zu holen. Sie begünstigten die Pilgerfahrt nach Rom auch durch den Bau spezieller Herbergen, wo die weit gereisten Pilger – im Frühmittelalter besonders häufig Iren und Angelsachsen – zusammenströmten. Um hier noch den mittelalterlichen Höhepunkt des Pilgerstroms nach Rom und seiner päpstlichen Unterstützung zu erwähnen, müssen wir einen chronologischen Sprung ins Jahr 1300 machen, als Papst Bonifatius VIII. das erste Heilige Jahr ausrief – ein «Jubeljahr». Der Ansturm der nach Sündenvergebung und Ablässen heischenden Pilger zeigte den Höhepunkt dieser leidenschaftlichen Bewegung im Mittelalter an und ließ zugleich die Angriffe ahnen, die ihr im 16. Jahrhundert von Seiten der Protestanten bevorstanden.
Als dritte bedeutende heilige Stätte mittelalterlicher Frömmigkeit gesellte sich Jerusalem und Rom ein so marginaler Ort der Christenheit wie Santiago de Compostela im spanischenGalicien hinzu. Der Körper des Heiligen Jacobus, der von Palästina kommend in einer Barke an die galicische Küste gespült worden sein sollte, wurde Anfang des 9. Jahrhunderts entdeckt. Die Pilgerfahrt nach Santiago erlebte ihren Aufschwung erst im 12. Jahrhundert, begünstigt vom größten religiösen Orden der Christenheit, dem Orden von Cluny. Zwischen 1130 und 1140 wurde der berühmte Pilgerführer für den Jakobsweg geschrieben, ein hochinteressanter Bestandteil des
Liber Sancti Jacobi
.
Da das Netz der Wallfahrten und Pilgerstraßen die ganze Christenheit überzog, soll auch der besondere Glanz anderer Orte hervorgehoben werden. Tours mit dem Grab des hl. Martin, der 397 gestorben war, erfreute sich weithin außerordentlicher Beliebtheit und zog die höchsten Persönlichkeiten an, von Karl dem Großen bis Philipp II. August und Richard Löwenherz. Ludwig der Heilige kam sogar drei Mal. Besondere Verehrung genossen auch die Orte, an denen der Erzengel Michael erschienen sein sollte, ein Heiliger ohne körperliche Hülle, der keine Reliquien hinterlassen hatte, aber als Erzengel der erhabenen Orte den Aufstieg zum Himmel symbolisierte. In Süditalien, auf dem Monte Gargano, begann seine Verehrung schon am Ende des 5. Jahrhunderts. In der Normandie strömten die Pilger zum Mont St. Michel, der durch seine Insellage eine Gesellschaft beeindruckte, die das Meer fürchtete, und der darum Saint-Michel-au-Péril-de-la-Mer genannt wurde. Im 15. Jahrhundert machte der Mont St. Michel, in dessen Schutz während des ganzen Hundertjährigen Krieges eine französische Garnison den Engländern Widerstand geleistet hatte, den hl. Michael zu einer Art französischem Nationalheiligen. Seit dem 14. Jahrhundert, zu einer Zeit, in der das Kind und die Verehrung des Jesuskindes in der mittelalterlichen Gesellschaft ein höheres Ansehen gewannen, zeichnete sich der Mont St. Michel auch durch Kinderwallfahrten aus.
Im Zuge der sprunghaft ansteigenden Marienverehrung kamen die Pilgerfahrten seit dem 11. Jahrhundert in besonderer Weise der Jungfrau Maria zugute. In Chartres wurde das Kleid verehrt, das Maria bei der Verkündigung getragen haben sollte. Überall wurden Marienheiligtümer, -figuren und -schreine aufgestellt, etwa in Notre-Dame de Boulogne und Notre-Dame deLiesse in Frankreich, Montserrat in Spanien, Hal in Belgien, Walsingham in England, Aachen in Deutschland, Mariazell in Österreich. Die große Blüte der Pilgerfahrt nach Rocamadour in der Diözese von Cahors im 12. Jahrhundert liefert ein gutes Beispiel für den Aufschwung der Marienwallfahrt. Die Grotte der hier verehrten «Schwarzen Madonna» befindet sich in beeindruckender Landschaft auf der Höhe eines steilen Felsens, 120 Meter oberhalb eines tief eingeschnittenen Tals, von dem aus die Pilger im 13. Jahrhundert auf Knien, den Rosenkranz betend, über eine Treppe mit 197 Stufen an ihr Ziel gelangten. Dieser Wallfahrtsort verdankt seinen Erfolg dem englischen König Heinrich II. Plantagenêt, der ihn zwei Mal, 1159 und 1170, besuchte, und einer 1172 verfassten Mirakelsammlung mit zahlreichen Berichten über die Wunder der Jungfrau Maria. Rocamadour war ein königlicher Wallfahrtsort, der besonders von den Königen von Frankreich frequentiert wurde. Im Jahr 1244 kam Ludwig IX., der Heilige, mit seiner Mutter Blanca von Kastilien und seinen Brüdern Alfons von Poitiers, Robert von Artois und Karl von Anjou; 1303 folgte Philipp IV., der Schöne; 1323 waren es Karl IV., der Schöne, und seine Gattin Maria von
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