Die Geburt Europas im Mittelalter
um eine Zivilisierung der Sitten waren, von der weiter oben in Bezug auf die Tischmanieren die Rede war. Danielle Régnier-Bohler hat die
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als eine «Erotik der Lustbeherrschung» definiert. Wie an anderer Stelle gezeigt worden ist, konnte diese Zivilisierung nicht verhindern, dass die höfische Liebe auch der Grobheit, ja sogar Obszönität einen Platz einräumen musste, besonders bei ihrem ersten großen Dichter, Wilhelm von Aquitanien (1071–1126). Dennoch hat Denis de Rougemont die höfische Liebe in einem berühmten Buch als «moderne Liebe» definiert. Der Mythos von Tristan und Isolde, gefolgt von einer reichen Literatur und manchmal genialen musikalischen Schöpfungen, hat diesen Prototyp der höfischen Liebenden lange Zeit in Europa lebendig gehalten.
Abaelard und Heloise: moderne Intellektuelle und moderne Lieben
Zu diesen Liebenden zählt ein berühmtes Paar, das eine eigene Variante der höfischen Liebe geliefert hat, aber diesmal handelt es sich um eine wahre Geschichte. Es sind Abaelard und Heloise. Wir wissen viel über das Leben dieses Philosophen, der sich als Lehrer an der Schwelle zum reifen Mannesalter mit seiner noch jugendlichen Schülerin in eine leidenschaftliche Liebe stürzte, aus der ein Sohn hervorging. Eine Geschichte, die man sich dramatischer und romantischer nicht denken könnte; sie handelt von Abaelards Kastration als Racheakt der Familie des jungen Mädchens und vom Rückzug der beidenLiebenden, die sich jeder in ein Kloster einschließen: Abaelard in Saint-Denis und Saint-Gildas de Rhuys in der Bretagne, Heloise in der Champagne, in einer dem Heiligen Geist geweihten Abtei, dem Paraclet. Ein wunderbarer und einzigartiger Briefwechsel zeugt von der Beständigkeit der Liebe zwischen den beiden einstigen Geliebten bis zu ihrem Tod. Die Geschichte von Abaelard und Heloise gibt auf manche Fragen Antworten, von denen man nicht weiß, ob man sie verallgemeinern kann. Kein Zweifel, dass die moderne Liebe in diesem Fall eine fleischliche Liebe war. Klar ist auch, dass sich diese Liebe außerhalb der Ehe entfaltet hat. Abaelard wollte seine Beziehung zu Heloise zwar durch Heirat ordnen, aber mit erstaunlich modernen Worten, und Heloise spricht von den Schwierigkeiten eines «Intellektuellen», im ehelichen Rahmen zu arbeiten und sich zu verwirklichen. Das Problem der höfischen Liebe trifft hier auf ein anderes Problem des 12. Jahrhunderts, das der Geburt der modernen Intellektuellen. Aber die existenzielle mittelalterliche Schöpfung eines neuen Gefühlsausdrucks ist eine der Neuerungen, die die größten Nachwirkungen auf das moderne Europa haben sollten.
Der Kuss auf den Mund
Ob in der höfischen Liebe oder in der Vasallität, dem rechtlichen Ausdruck des Lehenswesens, die affektiven Bindungen und Gesten, die in beiden Bereichen auftauchen, lassen ein neues Gefühl für neue Verhaltensweisen entstehen, denen in Europa ebenfalls eine lange Zukunft verheißen ist. Wenn der Herr die Hände des Vasallen in seine Hände nimmt, wenn der letztere ihm Huld und Treue schwört, wenn der höfische Liebende seiner Dame huldigt und er ihr Treue schwört, so sind das Vorgänge, die sich über den jeweiligen juristischen und rituellen Rahmen hinaus auf lange Sicht in der ganzen Gesellschaft verbreiten. Der Begriff der Treue drückt die Stärke der neuen persönlichen Bindungen aus. Hier hat eine tief greifende Veränderung gegenüber den persönlichen Bindungen der antiken Gesellschaften stattgefunden. Im Altertum bestand die wichtigste zwischenmenschliche Beziehung in einem Abhängigkeitsverhältnis, das eine Klientel aus dienenden Untergeordnetenmit einem Patron, einem Mächtigen, verband. Dieses Klientelsystem, das kaum anderswo als in Unterwelt- und Mafiamilieus wieder aufleben sollte, wurde durch die Treue abgelöst, die im modernen Europa das Miteinander von Hierarchie und Individualismus erlauben wird. Verlassen wir das Reich der Treue und der Liebe nicht ohne einen Hinweis auf das große europäische Schicksal, das seinem mittelalterlichen Ritus vorbehalten war: dem Kuss auf den Mund, der zunächst und lange Zeit unter Männern ausgetauscht wurde, wie es später noch die kommunistischen Führer in Osteuropa taten. Erst Friedenskuss und Lehnskuss, wird der Kuss auf den Mund auch ein Liebeskuss. Als solchem steht ihm in Europa eine glänzende Zukunft bevor.
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