Die Geburt Europas im Mittelalter
Sainte-Chapelle.
Bartlett betont, wie massenhaft die Urkunden in die Randgebiete der Christenheit gelangten. Die weite Verbreitung der Urkunden – aber auch der Chartulare, der Kopialbücher, das heißt nach bestimmten Kriterien zum Gebrauch und zur Erinnerung angelegten Urkundensammlungen – und der Münzprägung hat den Übergang der sakralen Verwendung von Schrift und Geld zur Epoche des praktischen Gebrauchs herbeigeführt. So hat die Christenheit paradoxerweise diese im künftigen Europa so effizienten Werkzeuge des Reichtums und der Macht säkularisiert. Im 12. Jahrhundert, genauer gesagt im Jahr 1194, tauchte ein anderes Instrument der Entwicklung und Machtentfaltung auf, über dessen ersten Entwurf Karl der Große kaum hinausgekommen war: die städtischen Schulen und die neuartigen Lehrstätten der Wissenschaft, die Universitäten.
Die Pilgerfahrten
Diese bewegte Christenheit verkörpert sich in der raumgreifenden Entwicklung des Pilgerwesens. Dem Bild der traditionellen Geschichtsschreibung von einem unbewegten Mittelalter, in dem der Bauer an der Scholle haftete und die Mehrheit der Männer und Frauen mit Ausnahme einiger Wandermönche oder Kreuzzugsabenteurer auf ihre kleine Heimat beschränkt blieben, hat die Historiographie unserer Zeit ein anderes Bild entgegengesetzt, das sicher angemessener ist: das Bild von einer mobilen mittelalterlichen Menschheit, die viel unterwegs ist,
in via
, ganz im Sinne der christlichen Definition des Menschen als Wanderer, als Pilger,
homo viator
. Meistens ging die Pilgerfahrt dem Handel voraus, auch wenn nach und nach dieselben Männer beide Aufgaben erfüllt haben oder sie das Werk von Pilgern und Kaufleuten waren, die Seite an Seite marschierten.
Wie Michel Sot richtig gesagt hat, war die Wallfahrt zuerst eine Erfahrung physischer Anstrengung, eine Wanderung, um «anderswohin zu gehen». Mit dieser Anstrengung wurden im Übrigen Ziele des Seelenheils, der Sündenvergebung und der körperlichen Heilung verfolgt. Die mittelalterliche Pilgerfahrt bedeutete auch Buße, und als nach dem Jahr Tausend, vor allem aber im 12. und 13. Jahrhundert, eine große Bußbewegung die Christenheit erfasste, haben die Pilgerfahrten daraus neue Kraft geschöpft. Der Pilger ist ein Wanderer, der sich freiwillig ins Exil begibt, sich eine Askese auferlegt, die auch den Anfängen jener Wanderer einen spirituellen Aspekt verleiht, die – erst suspekt, dann dankbar angenommen – auf Handlungsreisen gehen oder als Studenten von Schule zu Schule ziehen, von einer Universität zur anderen. Aber die bloße Wanderung macht noch nicht den Wert der Wallfahrt aus, sie braucht ein heiliges Ziel. Also entwickelte sich ein weit gespanntes Netz von Wallfahrtsstätten und eine Hierarchie dieser Orte, an denen der Pilger sowohl spirituellen Kontakt mit Gott oder dem Heiligen suchte als auch materiellen Kontakt mit seinem Grab und dem Ort seines Todes. Schon im Jahr 333 hatten gallische Pilger einen
Wegbegleiter von Bordeaux nach Jerusalem
verfasst, und 384 diktierte die spanische Nonne Egeria einen Bericht über ihre Pilgerfahrt ins Heilige Land. Jerusalem war also das erste großeWallfahrtsziel. Wer hätte dem Mensch gewordenen Christus und seinem Heiligen Grab auch den ersten Platz streitig machen sollen? Aber Jerusalem war nicht für jedermann in Reichweite, sowohl wegen der Entfernung, der zeitlichen Dauer und der Kosten einer solchen Pilgerfahrt als auch wegen der Unruhen, die das zwischen Römern, dann Byzantinern, Persern und schließlich Muslimen umstrittene Palästina in nicht abreißenden Wellen heimsuchten.
Es gab also eine zweite fundamentale Pilgerfahrt, die nach Rom führte, wo sich die Reliquien der beiden heiligen Gründer der Kirche, Petrus und Paulus, aber auch all die Märtyrer- und Christengräber der Katakomben und vorstädtischen Friedhöfe befanden und wo so schöne, meistens mit herrlichen Fresken geschmückte Kirchen die Pilger erwarteten. Außerhalb der Stadtmauern lag die Petersbasilika gleich neben dem Vatikan, die Paulusbasilika an der Ausfallstraße nach Ostia, San Lorenzo fuori le mura und Sant’Agnese fuori le mura an anderen großen römischen Straßen. Aber schon wurden auch innerhalb der Mauern Kirchen gebaut, San Giovanni in Laterano und Santa Maria Maggiore auf dem Esquilin. Bis zur Mitte des 9. Jahrhunderts ließen die Päpste zahlreiche Gebeine von Heiligen in die römische Innenstadt umbetten und beschleunigten so die für das Christentum charakteristische
Weitere Kostenlose Bücher