Die Geburt Europas im Mittelalter
Überlieferung vorherrscht, volkstümliche, kaum vom Christentum beeinflusste Erzählungen ins Bildungsgut ein. Die großen Volkskundler des 19. und 20. Jahrhunderts, die sich besonders in Finnland um die thematische Erfassung einer ihrer Ansicht nach einheitlichen europäischen Volkskultur bemüht haben, greifen auf das Mittelalter zurück. Wenn wir unsere Betrachtungen auf das 13. Jahrhundert ausdehnen, finden wir, wie Jean-Claude Schmitt berichtet, sowohl in Mittelfrankreich als auch in Norditalien den erstaunlichen Glauben an einen heiligen Hund und Schutzpatron der Kinder, den hl. Guinefort. Unter dem Druck der Gläubigen von der Kirche geduldet, kommen Karnevalsumzüge auf, von denen uns Beschreibungen erhalten sind, besonders für Rom im 13. Jahrhundert. Volkstümliche Veranstaltungen dieser Art mit zunehmend festlichem Charakter mehren sich im 15. und 16. Jahrhundert. Konzentriert auf die Zeit vor Ostern, präsentieren sie sich als Kämpfe zwischen Fasching und Fasten, denen Breughel der Ältere einen wunderbaren bildlichen Ausdruck verliehen hat.
Wie die Forscher der modernen Volkskunde nachgewiesen haben, war diese Volkskultur tatsächlich eine europäische, die aber bestimmte Grundzüge aus den verschiedenen vorchristlichen Kulturen schöpfte. So hat sie eine wichtige Rolle im dialektischen Verhältnis zwischen Einheit und Vielfalt gespielt, auf dem die europäische Geschichte beruht. In ihr haben keltische, germanische, slawische sowie den Alpen und dem Mittelmeer verbundene Kulturen ihre mittelalterliche Wandlung überdauert.
Münzen und Urkunden
Robert Bartlett hat sehr überzeugend dargelegt, wie sich die mittelalterliche «Europäisierung» Europas außer im Kult der Heiligen und der Vornamen, den er die «kulturelle Homogenisierung der Namengebung» nennt, in der Verbreitung der Münzprägung und der als Charten bezeichneten Rechtsurkunden manifestiert.[ 7 ] Ich glaube, dass die Unfähigkeit der mittelalterlichen Christenheit, nach dem Scheitern Karls des Großen eine einheitliche Währung oder wenigstens eine geringe Zahl vorherrschender Kurantgelder in Europa durchzusetzen, eines der Haupthindernisse für die Ausbildung einer gemeinsamen mittelalterlichen Wirtschaftssphäre war. Doch die Vielfalt der Münzen darf nicht über die Bedeutung der Einführung des Geldverkehrs durch jene Völker hinwegtäuschen, die vor ihrem Eintritt in die Christenheit keine Münzen benutzt hatten. Östlich des Rheins begann die Münzprägung nach 900. In der Mitte des 10. Jahrhunderts schlossen sich die Herzöge von Böhmen an, und um 980 die polnischen Fürsten. In Ungarn wurde das Münzgeld gleichzeitig mit der Errichtung der ersten christlichen Kirchenstruktur (1000–1001) in Umlauf gebracht. Bartlett schreibt: «Das Jahr Tausend steht für den Aufschwung neuer Münzen, vom mittleren Lauf der Donau bis an die Küsten der Ostsee und der Nordsee.» Ein anderes Kommunikationsmittel und Machtinstrument, das sich in der ganzen Christenheit verbreitete, bestand in der Ausstellung von Urkunden, die im Rechtsverkehr in Umlauf kamen.
Beim Prozess der Vereinigung der Christenheit hat der Schriftgebrauch eine wesentliche Rolle gespielt. Auf die Stellungdes Buchs in Europa werden wir noch zu sprechen kommen. Hier möchte ich weiter Robert Bartlett folgen und die Bedeutung der Urkunden für die Christenheit hervorheben. Diese rechtsgültigen Texte, die Ansprüche auf Grund und Boden, Gebäude, Personen oder Einkünfte begründen und ein wichtiges Instrument im Dienst von Recht, Reichtum und Macht darstellen, wurden in der ganzen Christenheit abgefasst und in Umlauf gebracht. Gewiss, die Hauptnutzer und Verfasser solcher Urkunden waren Kleriker, aber durch die Entwicklung der Städte und den Einsatz von Notaren zuerst im südlichen Europa wurden immer mehr Laien einbezogen. Die anschwellende Zahl der Urkunden rief Institutionen ins Leben, die bald in der ganzen Christenheit eine wichtige Rolle spielen sollten: die Kanzleien. Die immense Bedeutung des Urkunden ist an der Panik abzulesen, die den französischen König Philipp August befiel, als sich der König von England in der Schlacht von Fréteval der Truhe bemächtigte, welche die Urkunden der französischen Königtums enthielt und nichts anderes war als der
Trésor des chartes
. Es wurde beschlossen, diese Archive sesshaft zu machen, und Ludwig der Heilige ließ sie an einem sakralen Ort unterbringen, in der Hofkapelle Saint-Nicolas, später der
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