Die Geburt Europas im Mittelalter
christlichen Europa, die sich mit den großen byzantinischen und muslimischen Städten messen konnte. Im kulturellen und künstlerischen Bereich und bei der regen Übersetzungstätigkeit kam es zu einer regelmäßigen Zusammenarbeit zwischen Christen, Juden und Muslimen, die Palermo zugleich als beispielhafte Hauptstadt des christlichen Europa und absolute Ausnahme erstrahlen ließ.
Wäre das Königreich Sizilien nicht am Ende des 13. Jahrhunderts kurzfristig von den Franzosen erobert worden – 1266 wurde der Bruder Ludwigs des Heiligen, Karl von Anjou (1227–1285), als König eingesetzt – und dann, nach dem Massaker an den Franzosen bei der so genannten «Sizilianischen Vesper» im Jahr 1282, langfristiger in die Hand von Aragón gefallen, könnte man sich vorstellen, dass dieser eigenwillige Teil der mediterranen Christenheit entweder unabhängig geworden oder in der byzantinischen oder muslimischen Welt aufgegangen wäre. Man sieht an diesem Fall, dass Europa nicht seit jeher und auf Ewigkeit in die Geographie und die Geschichte eingeschrieben war.
Die europäische Renaissance des 12. Jahrhunderts
Das 11. bis 12. Jahrhundert ist eine Periode wesentlicher Wandlungen im christlichen Europa. Seit der amerikanische Historiker Charles Homer Hastings 1927 von einer Renaissance des 12. Jahrhunderts gesprochen hat, hat man ihre Spur verfolgt. Aber die Veränderungen in der damaligen Christenheit gingen weit über eine Wiederbelebung der antiken Kultur hinaus, auch wenn die Menschen des Mittelalters, wie wir gesehen haben, ihre Innovationen im Allgemeinen unter dem Deckmantel einer Renaissance verbargen. In der Perspektive einer langen europäischen Geschichte möchte ich die entscheidende Bedeutung der Geburt oder Entwicklung einer neuen Kultur und Geisteshaltung während dieser Periode hervorheben. Ich beschäftige mich zuerst mit einer Veränderung des Christentums, das zunehmend von der Hinwendung zum Weiblichen und einer Annahme des Leidens geprägt wurde. Hiermit im Zusammenhang steht ein unerhörter Aufschwung des Marienkults und eine Umgestaltung der Christusverehrung, die nicht mehr dem siegreichen Christus galt, der den Tod bezwungen hatte, sondern einem leidenden Christus, dem Christus der Passion und der Kreuzigung.
Ich will zu zeigen versuchen, wie sich ein neuer, positiv gewendeter christlicher Humanismus herausbildet und sich zu einer Schicht in der langwierigen Ausformung des europäischen und abendländischen Humanismus verdichtet. Der Mensch tritt selbstbewusster in Erscheinung, geschaffen nach dem Bilde Gottes, und nicht mehr nur als zermalmter, von der Erbsünde erdrückter Sünder. Andererseits – abgesehen von dem sich wandelnden, aber immer noch lebhaften und lebendigen Glauben – werden im 11. und vor allem im 12. Jahrhundert zwei wesentliche Begriffe neu definiert, die auf lange Sicht den Rahmen des westeuropäischen Denkens abgeben: der Naturgedanke und die Idee der Vernunft.
Schließlich werde ich mich mit den jüngsten Vorstellungen von Robert I. Moore auseinandersetzen, der in dieser Periode die «erste europäische Revolution» ausmacht, die sich positiv in einem Aufschwung der Ökonomie, der Gesellschaft und desWissens äußert, im Prozess der Wiederherstellung der Ordnung aber ein Europa der Verfolgung und des Ausschlusses sichtbar werden lässt.
Der Aufschwung der Marienverehrung
Durch die unvergleichliche Ausweitung des Marienkults vom 11. bis 13. Jahrhundert hat das mittelalterliche Christentum eine Umwälzung erfahren. Die Verehrung der Jungfrau Maria als «Mutter Gottes» hatte sich im griechisch-orthodoxen Christentum sehr frühzeitig entwickelt. Ins christliche Abendland ist sie nur langsam eingedrungen. Nicht, dass Maria im dortigen Kult gefehlt hätte oder dass sie nicht schon seit dem frühen Mittelalter, besonders in der Karolingerzeit, präsent gewesen wäre, aber ihre Verehrung nahm erst seit dem 11. Jahrhundert einen zentralen Platz in den Glaubensvorstellungen und -praktiken des christlichen Abendlands ein. Der Marienkult stand im Herzen der Kirchenreform zwischen der Mitte des 11. und der Mitte des 12. Jahrhunderts. Er hängt mit der Entwicklung der Christusdevotion und insbesondere der Verehrung des Abendmahls zusammen. Die Jungfrau galt als ein wesentliches Element der Menschwerdung Christi, und sie spielte eine immer wichtigere Rolle in der Beziehung zwischen ihm und den Menschen. Sie wurde fast die einzige, exklusive Fürsprecherin der Menschen bei
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