Die Geburt Europas im Mittelalter
ihrem göttlichen Sohn. Während sich die meisten Heiligen auf die Heilung bestimmter Krankheiten oder eine bestimmte soziale Aufgabe spezialisiert haben, weist die Jungfrau eine Generalkompetenz in Wunderdingen auf. Ihre Zuständigkeit umfasst alle Probleme der Männer und Frauen, ja besser noch, sie verspricht wirksame Hilfe. Sie nimmt einen so hohen Rang in der Heilserwartung der Menschen ein, dass man ihr selbst gewagte, geradezu anstößige Schutzfunktionen überträgt. Sie schützt Verbrecher und Sünder, deren Missetaten und Vergehen unverzeihlich scheinen. Sie legt gute Worte für sie ein, und Christus gibt den Bitten seiner Mutter nach, so unmäßig sie auch sein mögen.
Mir scheint, dass die Jungfrau unter diesen Bedingungen einen außerordentlich hohen Status gewinnt. Sie kommt mir vor wie eine Art vierte Person der Dreifaltigkeit. Drei großeFeste des Christentums sind ihr geweiht: Mariä Reinigung, Mariä Verkündigung und Mariä Himmelfahrt. Die Reinigung am 2. Februar, hinter der sich ein altes heidnisches Fest zum Erwachen der Natur verbirgt, das Fest des Bären, der aus seiner Höhle kriecht, steht für den ersten Kirchgang der Wöchnerin und schreibt die jüdischen Riten fort, die nach einer Niederkunft vierzig Tage observiert werden. Aber dieses Fest, das mit der Einführung des Jesuskindes in den Tempel zusammenhängt, ist ein Fest der Reinigung und wirft ein Problem auf, das die Kirche und die Christen in große Unruhe versetzt, vor allem im 14. Jahrhundert. War Maria, als menschliches Geschöpf eine durch Schwangerschaft und Niederkunft verunreinigte Frau, mit dem Makel der Erbsünde behaftet? Der Glaube an die unbefleckte Empfängnis sollte sich erst im 19. Jahrhundert allgemein durchsetzen, aber meiner Ansicht nach zeugt er von der Tendenz der Männer und Frauen im Mittelalter, Maria auf den gleichen Rang zu erheben wie ihren göttlichen Sohn.
Die Verkündigung Mariä am 25. März, bei der die Mitteilung von der bevorstehenden Fleischwerdung des Gottessohnes an Maria und durch sie an die Menschheit ergeht, bildet den Prototyp des prophetischen Dialogs zwischen der Jungfrau und dem Erzengel Gabriel. Sie stellt einen der großen Momente in der Geschichte der Menschheit dar. In der Malerei war die Verkündigung, wie Erwin Panofsky schon 1927 gezeigt und Daniel Arasse es 1999 tiefer begründet hat, das Sprungbrett für die perspektivische Darstellung, die in der europäischen Malerei erstmals 1344 von Ambrosio Lorenzetti in der Raumgestaltung seiner sienesischen
Verkündigung an Maria
realisiert wurde.
Das dritte große Marienfest ist Mariä Himmelfahrt am 15. August, ein Echo auf die Himmelfahrt Christi. Auch hier wird Maria gleich nach ihrem irdischen Tod nicht nur ins Paradies erhoben, sondern höher hinauf in den Himmel, wo der Thron Gottes ist und sie von seinem Sohn gekrönt wird.
Seit dem 12. Jahrhundert schwillt die fromme Mariendichtung in nie gekanntem Ausmaß an. Das ihr gewidmete Gebet, das
Ave Maria
, erlangt einen vergleichbaren Stellenwert wie das
Vaterunser
. Dadurch, dass dieses Gebet seit 1215 fast immer Bestandteil der Buße ist, die den Sündern bei der jährlichenBeichte auferlegt wird, dringt die Marienverehrung tief in die Frömmigkeit der Christen ein. Ich will nur zwei ungewöhnliche Werke nennen, die zu Ehren der Jungfrau verfasst wurden: zunächst die Mirakelsammlung von Gautier de Coincy (1177–1236), die 58 Wundergeschichten, mehrere Loblieder sowie Gebete in Versform enthält; sodann den mit prachtvollen Miniaturen illustrierten Band, den der kastilische König Alfons X., der Weise, der Jungfrau zugeeignet hat, eine Sammlung erbaulicher Gedichte in galicischer Sprache, der Dichtersprache der Iberischen Halbinsel: die
Cantigas de Santa María
.
Es muss betont werden, wie sehr der Marienkult von einer außerordentlichen Blüte der Ikonographie profitiert hat. Miniaturen und Skulpturen boten den Menschen im Mittelalter einen Schatz an Marienbildern als herzerquickende Augenweide dar. Die wichtigsten Themen der Darstellung haben sich im Lauf des Mittelalters weiterentwickelt. Die romanische Jungfrau ist in erster Linie eine Mutter mit dem göttlichen Kind auf ihrem Schoß. Danach gibt sie Gelegenheit zu einer Huldigung an die weibliche Schönheit. Schließlich nimmt sie einen wichtigen Platz in der Hinwendung des Christentums zum Leiden ein. Sie ist die Pietà, die ihren Sohn, den toten Erlöser, auf dem Schoß hält; und sie ist die barmherzige Jungfrau, die
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