Die Geburt Europas im Mittelalter
ausgewirkt.
Schließlich war der feudale König sowohl in der Theorie als auch in der Praxis vor allem mit einer doppelten Aufgabe betraut: der Sorge für Gerechtigkeit und Frieden. Wir könnten statt Frieden auch Ordnung sagen, aber es handelt sich um eine Ordnung, die nicht nur irdische Ruhe bedeutet, sondern auch Fortschreiten auf dem Weg zum Heil. Jedenfalls hat die Feudalmonarchie die Christenheit auf den Weg dessen gelenkt, was wir heute einen Rechtsstaat nennen würden. Als für Europa weniger wichtig hat sich in der langen Dauer die Tatsache erwiesen, dass die Feudalmonarchie eine aristokratische Monarchie war und, da der König als der vornehmste Adlige galt, an der Legitimation des Geblütsadels teilhatte. Dieser Aspekt hat heute nur noch anekdotischen Charakter; aber im Mittelalter war er ein Faktor der Kontinuität und Stabilität, der die Existenz königlicher Dynastien begünstigte. In einem Königreichwie Frankreich trug auch der Ausschluss der Frauen von der Thronfolge, der erst nachträglich, im 14. Jahrhundert, durch das Salische Gesetz festgeschrieben wurde, zum Erhalt der Monarchie bei, nachdem der biologische Zufall den Königen vom Ende des 10. bis Anfang des 14. Jahrhunderts in ununterbrochener Folge Söhne geschenkt hatte.
Im Umfeld dieses rechtlichen Aspekts gewinnt die Feudalmonarchie wieder europäische Tragweite. Das 12. Jahrhundert war
ein großes Jahrhundert der Rechtsbildung
. Außer der seit langem nachgewiesenen Renaissance des römischen Rechts wurden in dieser Zeit, ausgehend vom
Decretum Gratiani
, das der Mönch Gratian um 1130–1140 in Bologna verfasst hatte, die wesentlichen Grundsteine des kanonischen Rechts gelegt. Dieses Recht zeigte nicht nur die Verchristlichung der Rechtsauffassung und des juristischen Apparats sowie den Anteil der Kirche am gesellschaftlichen Überbau, es legitimierte auch die Neuerungen, die aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklung etwa im Bereich der Ehe oder der Ökonomie in das Recht eingeführt wurden.
Die Feudalmonarchien
Nicht alle diese Feudalmonarchien haben den gleichen Entwicklungsstand und die gleiche Stabilität erreicht. Infolgedessen haben sie auch nicht überall eine solide Basis für die späteren europäischen Nationen geschaffen. In der Welt der nordischen, skandinavischen Christenheit wie auch in der mitteleuropäischen Welt der slawischen und ungarischen Christenheit boten die Monarchien unter territorialen Gesichtspunkten keine feste Grundlage. In Deutschland und Italien war die Macht zersplittert, wobei der größte Anteil den Städten zufiel, auf deren Herrschaft wir noch zu sprechen kommen werden. Das oben Gesagte gilt daher vor allem für England, Frankreich und, auf der Iberischen Halbinsel, Kastilien. Hinzu kommt eine in ihrer Art unvergleichliche Monarchie, die nur bis zum 19. Jahrhundert bestand, deren Gedächtnis aber ins europäische Bild der langen Dauer eingegangen ist: das Königreich der Beiden Sizilien, das genau in dieser Periode entstand.
England.
– Das Königreich England hat im Lauf des 11. und 12. Jahrhunderts Wechselfälle durchgemacht, die es keineswegs geschwächt, sondern ihm erlaubt haben, seine Institutionen zu stärken. Die angelsächsische Zeit hatte gewisse Grundlagen geschaffen, vor allem dank dem intellektuellen und literarischen Wirken König Alfreds im 9. Jahrhundert und der herausragenden Persönlichkeit Eduards des Bekenners (1042–1066) im 11. Jahrhundert. Die Eroberung Englands durch Herzog Wilhelm von der Normandie im Jahr 1066 wurde zum Ausgangspunkt einer beträchtlichen Stärkung der englischen Monarchie. Die Regierung der in England herrschenden Normannenkönige stützte sich auf einen ungewöhnlichen Text, das
Domesday Book
(oder genauer gesagt
Domesday Survey
), das ein detailliertes und genaues Verzeichnis der Besitzungen der englischen Krone enthielt. Der Titel
Buch des Jüngsten Gerichts
, der seinen Ausnahmecharakter unterstreicht, rückt England am Ende des 11. Jahrhunderts in die Perspektive der Rechnungslegung einer Monarchie, die sich auf den Weg der Endzeit und des Heils begibt. Das Verzeichnis erlaubte, die normannischen Eroberer sinnvoll mit Land und Einkünften auszustatten, und unterstützte einen wirtschaftlichen Aufschwung, der dazu beitrug, dass England sich zur ersten großen europäischen Monarchie entwickeln konnte. Es gelang den Normannenkönigen, den Erben des Herzogtums der Normandie, wo sich im 10. und 11. Jahrhundert eine für die damalige
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