Die Geburt Europas im Mittelalter
den Gläubigen – einzeln oder öfter in Gruppen – unter den Falten ihres ausgebreiteten Mantels Schutz bietet. Obwohl die Reformation dem Marienkult ein jähes Ende machen sollte, setzt sich die Jungfrau in der ganzen europäischen Christenheit für Jahrhunderte als Mutter und Fürsprecherin der Menschheit durch. In der Kunst entwickelt sich, verbunden mit dem christologischen Zyklus, ein Marienzyklus, in dem die Gestalt Marias immer mehr Gewicht bekommt. Mit der Verbreitung der
Stundenbücher
zieht die Marienverehrung in die allgemeine Frömmigkeit ein, vor allem in den weiblichen und privaten Andachtsraum. Die Jungfrau ist zur Hauptdarstellerin des größten Ereignisses der Geschichte geworden, der Inkarnation. Wie bei jedem wichtigen historischen Phänomen verankert sich ihr Kult in einem Netz heiliger Orte. Diese Orte sind nicht nur die bereits erwähnten Pilgerzentren oder Aufbewahrungsstätten von Reliquien, sondern bestehen mehr noch in Dedikationen an Unsere Liebe Frau. Ihr werden fast alle Kathedralen in der Christenheitgewidmet, was meistens durch schlichte Umwidmung geschieht. So wird die ursprünglich dem hl. Stephan geweihte Kathedrale von Paris in Notre-Dame verwandelt.
Der Marienkult stellt den Historiker vor ein letztes Problem. Kam sein Aufschwung der irdischen Stellung der Frau zugute? Hat er das Ansehen der Frau im mittelalterlichen Abendland gefördert und inspiriert? Es ist schwierig, diese Frage zu beantworten, und die Meinungen der Historiker sind geteilt. Dennoch glaube ich, dass die Jungfrau, im Gegensatz zu Eva als dem sündigen Weib, tatsächlich zum Inbegriff der wieder in Ehren aufgenommenen Frau und Retterin geworden ist. Wenn man bedenkt, dass sich die Marienverehrung zur gleichen Zeit entwickelt hat, in der die Ehe zum Sakrament erklärt wurde, während das Kind an Ansehen gewann und die Kleinfamilie, wie auf den Bildern von der Geburt Christi zu sehen ist, in den Mittelpunkt rückte, kommt man nicht umhin, in der Jungfrau den großen Beistand für das irdische Los der Frau zu sehen. Dieser Status profitiert auch vom Aufschwung der höfischen Liebe. Notre-Dame, Unsere Liebe Frau, ist in höchstem Grade die vom Ritter, von den Männern umworbene «Dame», eine strahlende weibliche Figur in der göttlichen und menschlichen Welt der mittelalterlichen Gesellschaft.
Die Hinwendung zum leidenden Christus
Mit der Feminisierung der Frömmigkeit, die der Marienkult mit sich bringt, verbindet sich die bereits erwähnte Hinwendung zum Leiden. In der historischen Entwicklung des Gottesbildes weicht der siegreiche Christus, der lange Zeit in der Tradition der antiken Helden als Bezwinger des Todes dargestellt wurde, dem leidenden Christus, dem Schmerzensmann. Es ist schwierig, diese Entwicklung genau zu verfolgen und ihre Ursachen zu begreifen. Sicher scheint mir jedoch, dass die Neubewertung des militärischen Sieges, der nicht mehr als Zeichen der Auserwählten gilt, das Bild Christi seines triumphierenden Aspekts beraubt und auf diese Weise zur Entmilitarisierung, wenn ich so sagen darf, der Person Christi beigetragen hat. Andererseits habe ich den Eindruck, dass bei der Rollenverteilung zwischen den drei Personen der Trinität und der Jungfrauin zunehmendem Maße Gottvater das Bild der Majestät einnimmt, wie es der Entwicklung der Herrschaftsgewalt der irdischen Könige entspricht. Zugleich wirft die Kirche, seit Anfang des 13. Jahrhunderts besonders unter dem Einfluss der Bettelorden, durch die Werke der Barmherzigkeit einen milderen, brüderlichen Blick auf die Niederen, die Kranken und vor allem die Armen. Die Parole des evangelischen Erwachens, die in der Kirche laut wird und sich manchen Laien mitteilt, heißt «folge nackt dem nackten Christus». Auch hier legt die Ikonographie nicht nur Zeugnis ab, sie entfaltet auch eine Wirkung. Seit Anbeginn des Christentums diente das Kreuz als Zeichen der Christen; doch seit dem 11. Jahrhundert verbreitete sich das Bild des Gekreuzigten, des Kruzifix.
Der Christus, der sich durchsetzt, ist nunmehr der von Schmerzen gezeichnete Christus der Passion. Die Ikonographie verbreitet diese neuen Jesusbilder einschließlich der Passionswerkzeuge, die sie in einer Mischung aus Symbolik und Realismus darstellt. Die Zurschaustellung erst der Kreuzigung und dann der Grablegung öffnet die Tür für eine meditative Betrachtung des verwesenden Leichnams, die seit dem 14. Jahrhundert in einer neuen Empfindsamkeit für das Makabre um sich greift.
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