Die Geburt Europas im Mittelalter
Arras, in Mailand oder in der Lombardei. Die Regionen, wo die reformerisch gebliebenen oder häretisch gewordenen Strömungen am stärksten anschwollen, waren Lotharingien, der Südwesten und Südosten des heutigen Frankreich, Norditalien und die Toskana. Europa zeigte sich protestbereit. Die Kirche hatte einen schweren Stand zwischen den notwendigen innerkirchlichen Reformen und der Unterdrückung der Häresie. Was die Reform des Klerus betrifft, so führte sie zur Verurteilung des Sakramentenhandels, der Simonie und der Missachtung des Zölibats der Priester, von denen die meisten verheiratet waren oder in wilder Ehe lebten. Andererseits weigerten sich immer mehr Laien, die Sakramente von unsittlichen Priestern oder überhaupt von Klerikern zu empfangen.
Manche Häretiker lehnten auch die Verehrung des Kruzifixoder gar des Kreuzes ab. Unter dem Einfluss der Mönche von Cluny maß die Kirche dem Gebet, den Totenmessen und der Entlohnung der Kleriker für diese Dienste wachsende Bedeutung bei. Eine beträchtliche Zahl an Laien wehrte sich auch gegen diese neuen Verhaltensweisen. Selbst die Friedhöfe blieben von Protesten nicht verschont, weil die Laien sie, obwohl von der Kirche geweiht, nicht als heilige Stätten anerkennen wollten. Außerdem bestritten sie das Monopol, das die Kirche sich auf die Benutzung des Evangeliums für Schriftlesungen und Predigten angemaßt hatte. Und schließlich rief die individuelle und kollektive Bereicherung innerhalb der Kirche virulente Kritik hervor. Die Kirche fühlte sich bald wie eine belagerte Festung. Zuerst versuchte sie, die Häresien zu unterscheiden und zu benennen, um sie besser bekämpfen zu können. Aber oft gab sie ihnen Namen spätantiker Sekten, die sie in alten Texten fand und die nicht der realen Bedrohung entsprachen. Meistens wurden die Häretiker für Manichäer gehalten, die Gut und Böse als radikalen Gegensatz begreifen, Fundamentalisten also.
Der Kampf gegen die Häresien wurde von der großen Institution vorbereitet, die in der Christenheit eine Vormachtstellung innehatte und auch die Kreuzzüge organisierte: dem Orden von Cluny. Der berühmte Abt von Cluny, Petrus Venerabilis, unter dessen Leitung das Kloster von 1122 bis 1156 stand, schrieb in drei Traktaten gegen «die großen Bedrohungen der Christenheit» eine Art Handbuch der christlichen Orthodoxie. Der erste Traktat richtete sich gegen den Häretiker Petrus von Bruis, Pfarrer eines Dorfes in den provenzalischen Alpen, der die Sakramente ablehnte, Seelenmessen für Verstorbene verurteilte und den Abscheu vor dem Kreuz predigte; der zweite, eine Premiere in der Christenheit, war eine Schrift gegen den als Hexer präsentierten Mohammed und seine Schüler; der dritte schließlich war eine Widerlegung der Juden, die für Gottesmörder erklärt wurden. Nach 1140 begann die Generaloffensive. Die Häresie wurde nun entsprechend dem neuen Naturverständnis als eine Krankheit betrachtet. Sie galt als Lepra oder Pest. Die Kirche verbreitete die Idee der Ansteckung und ließ die Abtrünnigen auf diese Weise zu einer furchtbaren Bedrohung werden.
In Südfrankreich nahm der Ausdruck «Katharer», der auf Griechisch
rein
bedeutet und im Deutschen das Wort
Ketzer
ergab, besondere Bedeutung an. 1163 wurden Ketzer in Köln und in Flandern entdeckt. 1167 soll eine häretische Versammlung in Form eines Konzils im Herrschaftsbereich des Grafen von Toulouse in Saint-Félix-de-Caraman stattgefunden haben. Im Languedoc und in Okzitanien schloss sich ein Teil des Adels und sogar des Hochadels mehr oder weniger der Häresie der Katharer an, vor allem aus Protest gegen das kirchliche Inzestverbot, das eine Zerstückelung des Landbesitzes zur Folge hatte. Der Katharismus im eigentlichen Sinne war ein echter Manichäismus, der die Ablehnung des Materiellen, des Fleischlichen verkündete und zu kultischen Handlungen und Riten verpflichtete, die von denen der christlichen Kirche sehr verschieden waren. Es bildete sich eine Elite der Reinen, der Vollkommenen, die gegen Ende ihres Lebens eine Art Sakrament, das
consolamentum
, empfingen. Meiner Überzeugung nach war der Katharismus keine christliche Häresie, sondern eine andere Religion. Mir scheint, dass seine Bedeutung überschätzt worden ist, sowohl von der Kirche, die ihn ausrotten wollte, als auch von den militanten Regionalisten des 20. Jahrhunderts, die in ihm ein besonderes Vermächtnis zu erkennen glaubten. Es schmälert nicht die Grausamkeit der kirchlichen
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