Die Geburt Europas im Mittelalter
die Entstehung Europas handelt. Moore zufolge war es «eine besondere Mischung aus Gier, Neugier und genialem Erfindergeist», die die ersten Europäer antrieb, «ihr Land und die Arbeitskraft ihrer Leute immer intensiver auszubeuten, Verwaltungs- und Herrschaftsstrukturen auszuweiten und so zu perfektionieren, dass sie die Gesellschaft wirklich durchdrangen, und auf diese Weise schließlich die Voraussetzungen des europäischen Kapitalismus, der europäischen Industrialisierung, des europäischen Imperialismus zu schaffen: Im Guten wie im Schlechten war diese Revolution ein Ereignis nicht allein der europäischen, sondern der Weltgeschichte.»[ 9 ] Meiner Ansicht nach ist das – trotz aller Übertreibung – eine wichtige Schlussfolgerung, die eine große Wende im Aufbau Europas unterstreicht. Ich werde im folgenden Kapitel, das dem 13. Jahrhundert gewidmet ist, auf die Analyse dieser Wende zurückkommen, weil ich glaube, dass man erst im 13. Jahrhundert richtig erfassen kann, welcheDimensionen diese Konstruktion eines Europa hat, das sich in erster Linie auf die Städte stützt, aber zugleich den Anfang vom Ende des so lebhaften Aufschwungs zu spüren bekommt, der das 12. Jahrhundert als Epoche des großen Brodelns im Abendland erscheinen lässt.
Ein Europa der Verfolgung zeichnet sich ab
Ich halte es für angebracht, schon jetzt auf die Anfänge der unheilvollen Folgen und Entgleisungen dieses Aufschwungs, dieser Blüte hinzuweisen. Auch hier hat Robert I. Moore klarsichtig erkannt, was er die Geburt einer «Gesellschaft der Verfolgung» nennt. Was ist geschehen? Lange Zeit angreifbar, in einem Gefühl der Unsicherheit befangen, haben sich die Christen sowohl in materieller Hinsicht als auch im intellektuellen und religiösen Bereich feste Grundlagen geschaffen. Auch wenn nicht alle mit Otto von Freising dachten, die Christenheit sei gewissermaßen zur Vollkommenheit gelangt, waren sie doch selbstsicher geworden und infolgedessen expansiv, ja sogar aggressiv. Vor allem wollten sie jeden aufkeimenden Schmutz ausrotten, der die solide und erfolgreiche Christenheit gefährden konnte. Daher eine ganze Serie von Maßnahmen, die zwischen der Kirche und den weltlichen Herrschaften abgestimmt wurden, um die Unruhestifter oder Unreinheit säenden Elemente zu marginalisieren und sie gegebenenfalls aus der Christenheit auszuschließen. Die Hauptopfer dieser Verfolgungen waren zuerst die Häretiker, aber auch die Juden, die Homosexuellen und die Aussätzigen.
Häretiker
Die Häresie ist fast von Anfang an eine beständige Begleiterscheinung der Geschichte des Christentums. Die neue Religion definiert nach und nach, insbesondere durch Konzilien, eine amtliche Lehre der neuen Kirche. Diese Orthodoxie fordert Abweichungen heraus, die in einer unterschiedlichen «Auswahl» – das ist der Sinn des Wortes «Häresie» – aus dem christlichen Lehrgut bestehen und früher oder später von der Kirche verurteilt werden. Es sind also Häresien, die das Dogmabetreffen, vor allem Ansichten, die den drei Personen der Trinität keine Gleichwertigkeit zuerkennen und Jesus entweder die göttliche oder die menschliche Natur absprechen. Andere Häresien beziehen sich auf die kirchlichen Sitten und haben einen sehr ausgeprägt sozialen Charakter, wie beispielsweise der von Augustinus in Nordafrika vehement bekämpfte Donatismus. In der Karolingerzeit gab es noch trinitarische Häresien, aber kurz nach dem Jahr Tausend rollte eine Welle von Abweichungen heran, bei denen man gewöhnlich zwischen gelehrten und volkstümlichen Häresien unterscheidet. Die Ursache wird in der Regel entweder einem Streben der Gläubigen nach mehr sittlicher Reinheit oder dem allgemeinen Wunsch nach Reformen zugeschrieben, der in die Gregorianische Reform des 11. bis 12. Jahrhunderts mündete.
Nach einer langen Periode politischer und sozialer Stabilität während der Karolingerzeit beginnt eine Zeit der Unruhen und der Instabilität, die durch eine doppelte Bewegung geschürt werden: die der Kirche, die sich den Herrschaftsansprüchen der weltlichen Großen zu entziehen sucht, und die der Laien auf der Suche nach mehr Unabhängigkeit von den Klerikern. Die mittelalterliche Gesellschaft und Kultur beruhen auf einer Kirchenmacht, die spirituelle und zeitliche Gewalt vereint. Für die Kirche unannehmbar sind Häresien, die diese Macht in Frage stellen. Das zeigt sich zu Beginn des 11. Jahrhunderts überall, wo sie verfolgt werden, in Orléans ebenso wie in
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