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Die Geburt Europas im Mittelalter

Die Geburt Europas im Mittelalter

Titel: Die Geburt Europas im Mittelalter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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durch Mitteleuropa in den Nahen Osten. Unterwegs trafen sie auf zahlreiche jüdische Gemeinden, von denen viele niedergemetzelt wurden. Ihr Kreuzzug löste die erste große Welle von Pogromen in Europa aus.
    Im 12. und 13. Jahrhundert waren die Judenverfolgungen anders motiviert. Zwei Mythen wurden aufgebracht. Der erste war das – für wahr gehaltene – Gerücht von jüdischen Ritualmorden, bei denen christliche Knaben getötet würden, um ihr Blut für rituelle Handlungen zu verwenden. Wie es scheint, hat die erste Anschuldigung dieser Art 1144 in Norwich stattgefunden. In der zweiten Hälfte des 12. und der ersten des 13. Jahrhunderts wurden in England mehrere Fälle mit anschließenden Massakern verzeichnet. Ein weiterer Fall trug sich 1255 in Lincoln zu, wo nach dem Tod eines kleinen Jungen das Gerücht umging, er sei von den Juden zu Tode gefoltert worden. Nach London gebracht, wurden 19 der Beschuldigten gehenkt, und nur der Einspruch des KönigsbrudersRichard von Cornwall konnte 90 andere vor dem gleichen Schicksal bewahren.
    Solche Beschuldigungen, Exekutionen und Massaker verbreiteten sich auch auf dem Kontinent. Allerdings ist uns während der Herrschaft Ludwigs des Heiligen (1226–1270) kein Pogrom auf dem Territorium des französischen Königreichs bekannt. In dieser Zeit, in der die Christen anfingen, Juden wegen angeblicher Unreinheit zu verfolgen, kam ein weiteres Gerücht, das der Hostienschändung, auf. Juden wurden beschuldigt, geweihte Hostien in den Schmutz getreten zu haben – ein Vorwurf, der offensichtlich der zunehmenden Verehrung der Eucharistie entsprang, die 1264 zur Einrichtung des Fronleichnamsfestes führte.
    Oft lief die Verfolgung der Juden auf eine massive Ausweisung hinaus. So widerfuhr es den englischen Juden 1290 und den Juden in Frankreich 1306. Nachdem die letzteren auf Umwegen langsam wieder zurückgekehrt waren, erfolgte 1394 ihre endgültige Ausweisung aus dem französischen Königreich. Im 14. Jahrhundert lebte die Judenverfolgung im Zuge der großen Katastrophen dieser Zeit mit doppelter Gewalt wieder auf. 1321 wurden sie beschuldigt, wie die Aussätzigen Brunnen vergiftet zu haben. Die Folge waren Pogrome. Und als 1348–1350 die Schwarze Pest ausbrach und verheerend um sich griff, wurden die Juden erst recht, besonders in Deutschland, für die Epidemie verantwortlich gemacht. Das christliche Europa nahm den Gedanken der Ansteckung immer bereitwilliger an.
    Die Isolierung der Juden, die sie noch verletzlicher den Verfolgungen preisgab, verschärfte sich im 12. und 13. Jahrhundert. Grundbesitz und die Bestellung des Bodens sowie die meisten Handwerksberufe wurden ihnen verboten. Zu der schlimmsten Vertreibung kam es 1492 auf der Iberischen Halbinsel. Sie erfolgte zur gleichen Zeit wie die Zerstörung des letzten muslimischen Königreichs in Spanien, Granada. Die Katholischen Könige gingen in ihren Maßnahmen für die Erhaltung der Reinheit des Blutes,
limpieza del sangre
, weiter als jeder andere christliche König. Später wurden die Juden dort, wo sie nicht vertrieben worden waren, vor allem im Kirchenstaat und in reichsmittelbaren Gebieten, in Ghettos gesperrt, die zugleich Schutz und Gefängnis waren.
    Von allen Seiten mit Verboten belegt, hatten die Juden ihre Rolle als Geldverleiher beibehalten, aber im kleinen Maßstab von Gebrauchsdarlehen. Das brachte ihnen – neben kirchlichen und weltlichen Verfolgungen als Wucherer – den Hass der Christen ein, die unfähig waren, ohne ihre finanzielle Unterstützung auszukommen. Im Übrigen waren sie dank ihrer außerordentlichen medizinischen Kompetenz die Ärzte der Mächtigen und Reichen geworden. Die meisten Päpste und christlichen Könige, einschließlich Ludwigs des Heiligen, hatten jüdische Leibärzte.
    Im Rahmen der Verfolgungen, die ein Charakterzug Europas werden sollten, war die Verfolgung der Juden sicher die beständigste und grausamste. Ich zögere, von Rassismus zu sprechen, weil dieses Wort den Rassenbegriff mitsamt dem pseudowissenschaftlichen Beiwerk impliziert. Das hat es im Mittelalter nicht gegeben. Aber der im Wesentlichen religiöse Ausgangspunkt der christlichen Feindseligkeiten – wobei die Religion im Mittelalter alles war, so dass es einen spezifischen Begriff erst im 18. Jahrhundert gab –, die anti-jüdische Einstellung reicht allein nicht aus, um diese Haltung zu erklären. Die christliche Gesellschaft des Abendlands begann, den europäischen Antisemitismus aufzubauen.
Die

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