Die Geburt Europas im Mittelalter
besonderes Problem für die Christen dargestellt. Vor dem 10. Jahrhundert gab es im Abendland nur wenige jüdische Gemeinschaften. Sie bestanden hauptsächlich aus Kaufleuten, die mit anderen Orientalen (Libanesen, Syrern usw.) die wichtigsten Anteile des schwachen Handels betrieben, der noch zwischen der Christenheit und dem Orient bestand. Unterdessen bemühte sich die Kirche, das Verhältnis zwischen Christen und Juden in der Theorie und in der Praxis zu regeln. Eine Ausnahme bildete das westgotische Spanien, wo Königtum und Episkopat eine scharfe antijüdische Gesetzgebung entwickelten, die Léon Poliakov für den Beginn des Antisemitismus gehalten hat. Aber die Eroberung des größten Teils der Iberischen Halbinsel durch die Muslime führte eine neue Situation herbei, in der Juden wie Christen mehr oder weniger von den Muslimen geduldet wurden.
Karl der Große und seine Nachfolger haben die Juden trotz lebhafter Attacken seitens des Erzbischofs Agobard von Lyon nicht verfolgen lassen. Gemäß den Empfehlungen des Augustinus wandten die Christen ein Prinzip aus Psalm 59 auf die Juden an: «Töte sie nicht, damit mein Volk nicht vergisst. In deiner Kraft zerstreue sie, wirf sie nieder!» Das führte – nicht ohne Heuchelei – zu einer Art Duldung oder gar Schutz der Juden, der allerdings nur dadurch gerechtfertigt war, dass man in ihnen das wandelnde Gedächtnis der vorchristlichen Vergangenheit, einen Ansporn zur Vertreibung und zur Unterwerfung sah. Als sich das Feudalwesen in der Christenheit etablierte, wurde der Status der Juden dem der Unfreien angepasst. Durch diesen Stand der Knechtschaft wurden sie zugleich der Herrschaft und dem Schutz der Grundherren unterstellt, namentlich der christlichen Fürsten, die im Allgemeinen zwischen Duldung und Schutzpflicht auf der einen und Verfolgung auf der anderen Seite schwankten. Dies gilt besonders für die Päpste, die Kaiser und die Könige wie etwa Ludwig IX. den Heiligen von Frankreich, der die Juden verabscheute, sich aber dennoch als ihr «auswärtiger Bischof» verstand.
Die jüdische Literatur des Mittelalters räumt, genau wie die christliche, Karl dem Großen den herausragenden Platz eines legendenumwobenen Helden ein. Um das Jahr Tausend hat es im deutschen Reichsgebiet wohl an die 4000 Juden gegeben, deren Zahl gegen Ende des Jahrhunderts, kurz vor dem ersten Kreuzzug, auf fast 20.000 angestiegen war. Es kam vor, dass Juden als Spezialisten für ökonomische Belange, denen die Christen nicht genügen konnten, an den Hof christlicher Fürsten gerufen und privilegiert wurden. Der wirtschaftliche Aufschwung nach der Jahrtausendwende war also einer der Gründe für ihren wachsenden Bevölkerungsanteil, aber bald auch für ihre beginnende Verfolgung. Trotzdem herrschte noch im 11. Jahrhundert eine eher friedliche Koexistenz zwischen Christen und Juden. Die Juden waren die einzigen, denen die Christen – im Gegensatz etwa zu den mit Heiden gleichgesetzten Muslimen – eine «rechtmäßige» Religion zuerkannten, auch wenn es diesen Ausdruck gar nicht gab. Die gelehrten Kleriker unterhielten einen Meinungsaustausch mit Rabbinern, in dem sie sich über Fragen der Bibelexegeseauseinandersetzten. Die Juden hatten die Erlaubnis, nicht nur Synagogen, sondern auch Schulen zu bauen. Eine entscheidende Wende kam mit dem ersten Kreuzzug.
Während des ganzen 10. Jahrhunderts zog das Bild von Jerusalem die Christen mehr und mehr in seinen Bann. Es spielte eine Rolle bei dem Kreuzzug, zu dem der kluniazensische Papst Urban II. 1095 in Clermont aufrief und der 1099 zur Einnahme Jerusalems führte, gefolgt von einem heillosen Massaker der christlichen Kreuzfahrer an den Muslimen. Diese Schwärmerei für Jerusalem, gepaart mit der leidenschaftlichen Heraufbeschwörung der Passion Christi als Opfer der Juden, erzeugte eine große Welle von Hass und Feindseligkeit gegen die Juden. Sie wurde zusätzlich dadurch verstärkt, dass die Christen – wie aus den Quellen hervorgeht – am Ende des 11. Jahrhunderts keine rechte Vorstellung von der historischen Dauer besaßen und meinten, der Leidensweg Jesu sei ein zeitgenössisches Ereignis. Es waren also tatsächlich seine Peiniger, die sie bestrafen wollten. Während die mächtigeren und reicheren Kreuzfahrer mit gemieteten Schiffen von Marseille oder Genua über den Seeweg ans Ziel gelangten, zogen die Heerhaufen der Armen und Mittellosen, oft angeführt von fanatischen Aufwieglern wie dem Prediger Peter der Eremit, quer
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