Die Geburt Europas im Mittelalter
wird, wickelt er seine Geschäfte mit Hilfe von Buchhaltern, Kommissionären, Vertretern und Angestellten ab, die als
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, Faktor oder «Diener» bezeichnet werden und sich an auswärtigen Plätzen niederlassen, um vor Ort die Anweisungen der heimischen Großhändler entgegenzunehmen. So fächert sich die Klasse der Kaufleute auf. In Hinblick auf die Finanzoperationen kann man, wie Raymond de Roover es für Brügge getan hat, drei Kategorien unterscheiden: die Kreditgeber, oft «Lombarden» (das heißt Italiener) oder «Cahorsinen» genannt – dem Ruf nach standen Italien und die Stadt Cahors für die frühesten internationalen Kreditgeschäfte –, die im Grunde Pfandleiher sind, nur auf höherer Ebene als die Juden, deren Aktivität sich auf Gebrauchskredite beschränkt; dann die Sortenwechsler, die das tun, was im Mittelalter wegen der Münzvielfalt am häufigsten gebraucht wird; und schließlich die Wechsler im eigentlichen Sinne, Kaufleute und Bankiers zugleich, die neben ihren alten Funktionen noch Depositen- und Kreditgeschäfte tätigen. Das Europa der Banken kündigt sich an.
Wie wir gesehen haben, ist die Welt der Kaufleute hauptsächlich in den Städten beheimatet. Aber auch wenn sie Mitglieder dessen sind, was man vor allem in Italien das «Volk» nennt, siedeln sie sich doch auf einem ganz anderen Niveau des Reichtums und der Macht an. Diese Abgrenzungen durchziehen unverkennbar die soziale Wirklichkeit und sind wichtiger als alle juristischen Unterscheidungen. Selbst wenn das Bürgerrecht Privilegien enthält und sich auf eine kleine Zahlbeschränkt, hat es in der Realität des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens einer Stadt nicht so viel Gewicht wie die Unterschiede im Reichtum und der ökonomischen oder politischen Stellung. Yves Renouard schreibt zu Recht: «Die politische Herrschaft der Geschäftsleute hat nichts anderes geschaffen als ein Klassensystem.» Die Dominanz der Kaufleute zeigt sich auf vielfältige Art. Sie profitieren von der Verbreitung der Lohnarbeit in Handwerk und Gewerbe, und sie beherrschen den Arbeitsmarkt durch die Festlegung der Lohngelder. Sie beherrschen auch den Wohnungsmarkt: Als Arbeitgeber sind sie zugleich Besitzer von Immobilien. Und schließlich festigen sie ihre Macht und das Prinzip der sozialen Ungleichheit durch eine ungleiche Verteilung der Steuern, vor allem der wichtigsten, der
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, die vom Stadtrat veranlagt wird, in dem sie die Macht haben. Ein berühmter Text aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, verfasst von dem Juristen Philippe de Beaumanoir, der die Gewohnheitsrechte des Beauvaisis aufgezeichnet hat, bringt deutlich die Wurzeln dieser städtischen Ungleichheit in Europa zum Ausdruck: «Viele Beschwerden über die
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werden in den städtischen Kommunen laut, weil es oft vorkommt, dass die reichen Leute, die die Geschäfte der Stadt führen, weniger deklarieren, als sie selbst und ihre Familie müssten, und sie den anderen reichen Leuten die gleichen Vorteile verschaffen, so daß die ganze Last auf die Masse der armen Leute fällt.» Der Steuerbetrug nahm solche Ausmaße an, dass es manchmal Skandale gab, wie etwa in Arras, wo ein Mitglied der berühmten Bankiersfamilie Crespin «vergaß», 20.000 Pfund Gewinn zu deklarieren. Auch das Europa der Steuerhinterziehung war auf den Weg gebracht.
Die Rechtfertigung des Geldes
Ursprünglich – und noch im 12. Jahrhundert – galt jeder Kaufmann mehr oder weniger als Wucherer, den die Kirche verurteilte. Doch nachdem der Wucher so definiert worden war, dass er sich praktisch auf die Juden beschränkte, während die Macht der Kaufleute wuchs, begann die Kirche, deren Profite zu rechtfertigen, indem sie eine – übrigens recht verschwommene – Grenze zwischen erlaubten und unerlaubten Gewinnenzog. Manche Rechtfertigungen wurden mit den technischen Verfahrensweisen des Handels selbst verknüpft. Die Kirche gestand den Kaufleuten, die in ihren Geschäftsbeziehungen durch Verzug oder Beschädigung Nachteile erlitten hatten, einen Anspruch auf Schadenersatz zu. Der Handel führte die Begriffe Zufall, Risiko und Unsicherheit in die europäische Mentalität und Ethik ein. Wie wir noch sehen werden, besteht das Hauptargument, mit dem der kaufmännische Profit legitimiert wird, in der Überlegung, dass dieser Profit der Lohn für eine Arbeit sei. Besser noch: Als sich über die Scholastik und die Predigt der Begriff des Gemeinwohls und des gemeinen Nutzens verbreitete, wurde er auch
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