Die Geburt Europas im Mittelalter
auf die Kaufleute angewandt. So erklärte im 13. Jahrhundert der Kirchenrechtler Burchard von Straßburg: «Die Kaufleute arbeiten für das Wohl aller und zum öffentlichen Nutzen, indem sie die Waren zu den Märkten bringen und sie wieder abholen.»
Schon am Anfang des 13. Jahrhunderts schrieb der Engländer Thomas von Cobham in seinem
Bußbuch
: «Es gäbe in vielen Ländern eine große Not, wenn die Kaufleute nicht das, was an einem Ort im Überfluss vorhanden ist, an einen anderen brächten, wo dieselben Dinge fehlen. Darum dürfen sie mit Fug und Recht den Preis ihrer Arbeit empfangen.» So ist denn der Großhandel zwischen den Nationen eine gottgewollte Notwendigkeit, er entspricht den Plänen der Vorsehung.
Das Ansehen und die wachsende Macht der Kaufleute lösten große Veränderungen in den europäischen Mentalitäten aus. Wie Michel Mollat gesagt hat, wurde das Geld dank der Kaufleute das «Fundament einer Gesellschaft». Dennoch stellte sich der Kaufmann den grundherrlichen Werten nicht systematisch entgegen. Indem er die Lebensart der Adligen annahm, versuchte er, selbst als Adliger zu erscheinen, was ihm nicht selten gelang. Und indem er Grundbesitz erwarb, indem er Einkünfte aus der Nutzung des Bodens und der Ausbeutung der Bauern zog, versuchte er, sich das anzueignen, was im Mittelalter die zuverlässigste Basis der Macht abgab: Grund und Boden.
Die Entwicklung der religiösen Praktiken, auf die wir noch zu sprechen kommen werden, lieferte den Kaufleuten weitere Rechtfertigungen. Sie widmeten sich in großem Maßstab denWerken der Barmherzigkeit, insbesondere der Almosenpflege. Die Errichtung der ersten städtischen Hospitäler wie etwa Santa Maria de la Scala in Siena ist hauptsächlich Kaufleuten zu verdanken. Andererseits erlaubte ihnen die Einführung einer neuen Frömmigkeit, die den Seelen im Fegefeuer Erlösung versprach, und der Glaube an dieses Vorzimmer zum Paradies, in dem man von den durch die Beichte nicht getilgten Sünden gereinigt wurde, wieder Hoffnung auf das Heil zu schöpfen, das die Kirche bis zum 13. Jahrhundert allen Wucherern verwehrt hatte. Ein Text des deutschen Zisterziensers Caesarius von Heisterbach erzählt die Geschichte eines Wucherers aus Lüttich, den die Fürbitte seiner frommen Witwe erst ins Fegefeuer und dann ins Paradies beförderte.
Besonders interessant ist das Mäzenatentum, das seit dem 13. Jahrhundert von den meisten Kaufleuten gepflegt wurde. Die Förderung des Kirchenbaus und vor allem die Bezahlung von Künstlern für die Ausschmückung der Bauwerke – um 1300 wurde der erste «moderne» Künstler, Giotto, von den Florentiner Großbürgern, die seine Auftraggeber waren, reichlich entlohnt – galten als Akt der Frömmigkeit gegenüber der Stadt, in der sie niedergelassen waren. Wie es scheint, gehörten die Kaufleute auch zu den Ersten, die im Mittelalter einen ausgeprägten Sinn für Schönheit entwickelten. Das Geld und das Schöne gingen eine unerwartete Verbindung ein.
Schließlich brachte die Entwicklung der Handelspraktiken, vor allem die zunehmende Verschriftlichung im Beruf der Kaufleute-Bankiers, eine Art intellektuelle Kultur des kaufmännischen Denkens hervor. Dieser kulturelle Anspruch der Kaufleute führte zur Einrichtung eigener städtischer Schulen, wie bereits 1179 in Gent. Insgesamt trieb er die Laisierung der Kultur durch die Förderung und Verbreitung der Schriftlichkeit, der Rechenkunst, der Geographie und der lebenden Sprachen voran. Ein Genuese erteilte einem Kaufmann gegen Ende des 13. Jahrhunderts den Rat: «Du musst immer daran denken, alles, was du tust, in Schriftform festzuhalten.» Und ein Florentiner sagte ein Jahrhundert später: «Beim Schreiben darf man nicht faul werden.» Ein beispielhaftes Werk für den Bereich der Rechenkunst ist der
Liber abacci
, eine Abhandlung über Rechenmethoden aus dem Jahr 1202, verfasst von demPisaner Leonardo Fibonacci, dessen Vater Sekretär der Republik Pisa und mit der Leitung einer Handelsniederlassung im nordafrikanischen Bugia beauftragt war. In dieser christlich-islamischen Handelswelt, die er von Bugia aus auf Geschäftsreisen nach Ägypten, Syrien und Sizilien kennen lernte, machte sich Fibonacci mit dem mathematischen Wissen vertraut, das die Araber von den Indern übernommen hatten. Er führte das Rechnen mit arabischen Ziffern ein und damit die Verwendung der Null, die große Neuerung der Zählung nach dem Stellensystem, sowie Operationen der Bruch- und
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