Die Geburt Europas im Mittelalter
sie geworden sind. Das gilt für die keltischen Länder ebenso wie für die germanischen, die skandinavischen, die ungarischen oder die slawischen Länder. Und das Gewicht dieser Territorien, die langsam zu Europa verschmolzen, hing größtenteils vom Gewicht ihrer Städte ab. Nach Osten und Norden hin war das Städtewesen nicht so ausgeprägt, es gab weniger große und mächtige Städte, aber als Zeichen von Macht und Wirtschaftswachstum fand die Urbanisierung überall in Europa statt. Nur Island und Friesland blieben von der städtischen Blüte unberührt.
Definition der Stadt und des Städters im mittelalterlichen Europa
Zur Definition der europäischen Stadt und des Städters im Mittelalter möchte ich zwei französische Historiker zitieren, Jacques Rossiaud und Maurice Lombard. Rossiaud zufolge ist «die mittelalterliche Stadt zunächst eine wachsende, auf kleinen Raum konzentrierte Gesellschaft inmitten weiter, schwach bevölkerter Gebiete. Sie ist ferner ein Ort der Produktion und des Tausches, an dem sich Handwerk und Handel unter dem Einfluss der Geldwirtschaft vermischen. Sie ist auch das Zentrum eines eigenen Wertsystems, dem die Praxis fleißiger und schöpferischer Arbeit, die Freude am Geschäftemachen und am Geld, die Neigung zum Luxus und der Sinn für Schönheit entspringen. Des Weiteren lässt sie sich als Organisationssystem eines von Mauern umschlossenen Raums beschreiben, den man durch Tore betritt, innerhalb dessen man sich über Straßen und Plätze fortbewegt und der mit Türmen bewehrt ist. Aber sie ist auch ein auf Nachbarschaft gegründeter sozialer und politischer Organismus, in dem die Reichsten keine Hierarchie bilden, sondern eine Gruppe von Gleichen, die – Seite an Seite sitzend – eine einhellige und solidarische Masse regieren. Gegenüber der herkömmlichen Zeit im Rahmen und Rhythmusregelmäßig ertönender Kirchenglocken hat die städtische Laiengesellschaft eine gemeinschaftliche Zeit erobert, von den Klängen weltlicher Glocken bestimmt, die unregelmäßig, je nach den Ereignissen, zur Revolte, zur Verteidigung, zur Hilfeleistung rufen». Ich füge hinzu, dass ich weniger von Städtebau als von einer mittelalterlichen Stadtästhetik, von einer Konstruktion der Stadt als Kunstwerk sprechen würde.
Was die Vision einer egalitären Gesellschaft betrifft, ist dieses Bild von der mittelalterlichen Stadt sicher reichlich idealisiert. Wir haben gesehen, wie sich eine dominierende städtische Oberschicht bildet, die das Prinzip der Ungerechtigkeit vor allem im Steuerwesen festschreibt und die ständig wachsende Masse der Armen erdrückt. Hier zeigt sich das Europa des städtischen Elends. Aber es stimmt, dass das bürgerliche Modell im Ideal ein egalitäres ist, das jedenfalls auf eine horizontale und nicht, wie in der ländlichen Feudalgesellschaft, auf eine vertikale Gesellschaftsordnung abzielt. In der grundherrlichen Welt lässt nur der Mythos der ritterlichen Tafelrunde von einer Gruppe Gleicher träumen, die sich – mit Ausnahme ihres Oberhaupts, König Artus – unter Ausschaltung jeder Hierarchie um einen runden Tisch versammeln: Es ist ein aristokratischer Gleichheitstraum. Die bürgerliche Gleichheit dagegen stellt sich als ein Prinzip dar, das zwar in der Realität gebrochen wird, aber die theoretische Grundlage für eine Gleichheit liefert, die dem einzigen egalitären Modell des Mittelalters entspricht: der monastischen Gemeinschaft, in der jeder Mönch, der dem Kapitel angehörte, die gleiche Stimme besaß, materialisiert in einer weißen oder schwarzen Bohne für das Ja oder das Nein.
Um den Städter zu porträtieren, greife ich noch einmal auf Jacques Rossiaud zurück. Wenn es einen «mittelalterlichen Menschen» gibt, ist der Städter einer der wichtigsten Typen. «Welche Gemeinsamkeit», fragt Rossiaud, «besteht zwischen dem Bettler und dem Bürger, dem Kanoniker und der Prostituierten, die doch alle Städter sind? Was hat der Einwohner von Florenz mit dem von Montbrison gemein? Und was der frühe Städter der ersten Wachstumsphase mit seinem Nachfahren im 15. Jahrhundert? So unterschiedlich ihre Stellungen, aber auch ihre Mentalitäten sein mögen, kreuzen sich doch zwangsläufigdie Wege des Kanonikers und der Prostituierten, des Bettlers und des Bürgers. Die einen wie die anderen können sich nicht ignorieren und gehören demselben kleinen, dicht bevölkerten Universum an, das eine dem Dorf unbekannte Form von Geselligkeit verlangt, eine spezifische
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