Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
und habe dabei die Zeit gestoppt. Er braucht mindestens eine halbe Stunde, von seinem Zimmer aus. Damit haben wir genug Zeit, uns von der anderen Seite zu nähern und ihn zu überraschen.«
»Und wenn er nicht kommt?«
»Nun, dann haben wir nichts verloren, außer Zeit.«
»Und wenn einer von uns ihn begleitet?«
Er schüttelte den Kopf. »Daran habe ich auch schon gedacht«, sagte er. »Aber es ist keine gute Idee. Wenn er von sich aus in die Falle geht – allein und aus eigenem Antrieb –, dann gibt es kaum eine Möglichkeit, eine Verbindung zu uns herzustellen.«
»Wenn dieses, wenn jenes«, bemerkte Francis säuerlich. »Das klingt mir alles ziemlich zufällig.«
»Es soll ja auch zufällig aussehen.«
»Ich sehe nicht ein, was an unserem früheren Plan auszusetzen ist.«
»Unser früherer Plan ist zu schematisch. Er ist durch und durch konstruiert.«
»Aber ein exakt konstruierter, perfekter Plan ist besser als Glück.«
Henry strich die zerknüllte Karte mit der flachen Hand auf der Tischplatte glatt. »Da irrst du dich«, widersprach er. »Wenn wir versuchen, das Geschehen allzu planmäßig in Gang zu setzen, um dann auf einem logischen Weg an dem Punkt X anzukommen, dann folgt daraus, daß dieser logische Weg auch am Punkt X aufgenommen und zurückverfolgt werden kann. Ein Komplott ist für ein aufmerksames Auge immer erkennbar. Aber Glück? Das ist unsichtbar, unberechenbar, engelhaft. Was könnte, von unserem Standpunkt aus, besser sein, als Bunny zu erlauben, die Umstände seines Todes selbst zu wählen?«
Alles war still. Draußen schrillten die Grillen mit rhythmischer, durchdringender Monotonie.
Francis – sein Gesicht war feucht und sehr bleich – biß sich auf die Unterlippe. »Damit ich es richtig verstehe ... Wir warten an der Schlucht und hoffen darauf, daß er vorbeispaziert kommt. Und wenn er kommt, stoßen wir ihn hinunter – am hellichten Tag – und gehen nach Hause. Richtig?«
»Mehr oder weniger«, sagte Henry.
»Und wenn er nicht allein ist? Oder wenn jemand vorbeikommt?«
»Es ist kein Verbrechen, an einem Frühlingsnachmittag im Wald zu sein«, sagte Henry. »Wir können die Sache jederzeit abbrechen – bis zu dem Moment, wo er über die Kante kippt. Und das wird nur einen Augenblick dauern. Sollten wir auf dem Weg zum Wagen jemanden treffen – was ich für unwahrscheinlich halte, aber falls es doch passiert –, können wir immer sagen, es habe einen Unfall gegeben, und wir wollten Hilfe holen.«
»Aber wenn uns jemand sieht?«
»Ich denke, das ist extrem unwahrscheinlich.« Henry ließ ein Stück Zucker in seinen Kaffee plumpsen.
»Aber möglich.«
»Möglich ist alles, aber die Wahrscheinlichkeit arbeitet hier für uns, wenn wir es nur zulassen«, sagte Henry. »Wie groß sind denn die Chancen, daß jemand, den wir bis dahin nicht bemerkt haben, ausgerechnet in dem Sekundenbruchteil, den man braucht, um ihn hinunterzustoßen, an diesem abgelegenen Ort auftaucht?«
»Aber passieren kann es.«
»Passieren könnte alles, Francis. Er könnte heute abend überfahren werden und uns allen eine Menge Mühe ersparen.«
Eine sanfte, feuchte Brise wehte zum Fenster herein; sie roch nach Regen und Apfelblüten. Mir war der Schweiß ausgebrochen,
ohne daß ich es gemerkt hatte, und der Wind auf meiner Wange gab mir ein klammes, schwereloses Gefühl.
Charles räusperte sich, und wir sahen ihn an.
»Weißt du denn ... ?« begann er. »Ich meine, bist du sicher, daß es hoch genug ist? Was ist, wenn er ... ?«
»Ich hab’s mir heute genau angesehen«, sagte Henry. »An der höchsten Stelle sind es an die sechzehn Meter, und das müßte reichlich genügen. Das schwierigste wird sein, ihn dort hinzukriegen. Wenn er von einer weniger hohen Stelle hinunterfällt, kommt er schlimmstenfalls mit einem gebrochenen Bein davon. Im übrigen kommt es in hohem Maße auch darauf an, wie er stürzt. Rückwärts scheint mir für unsere Zwecke sehr viel besser zu sein als vorwärts.«
»Aber ich habe schon von Leuten gehört, die aus dem Flugzeug gefallen sind und überlebt haben«, sagte Francis. »Was ist, wenn er den Sturz überlebt?«
Henry schob die Finger hinter die Brille und rieb sich das Auge. »Na ja, weißt du, da ist ein kleiner Bach am Grunde der Schlucht«, sagte er. »Er führt nicht viel Wasser, aber es genügt. Er wird betäubt sein, unter allen Umständen. Wir müßten ihn bloß hinschleifen und mit dem Gesicht ins Wasser drücken – ich schätze, das
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