Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
halbdunklen, vom Morgengrauen erfüllten Küche bewegte.
Während wir aßen, beobachtete ich ihn neugierig. Er war bleich; seine Augen blickten müde und versunken, aber nichts in seinem Gesichtsausdruck verriet, was er gerade dachte.
»Henry«, sagte ich.
Er schrak auf. Es war seit mindestens einer halben Stunde das erstemal, daß einer von uns ein Wort gesagt hatte.
»Was denkst du?«
»Nichts weiter.«
»Wenn du immer noch daran denkst, ihn zu vergiften ...«
Er sah mich an, und der jäh aufflammende Zorn überraschte mich. »Sei nicht absurd«, fauchte er. »Ich wünschte, du würdest mal eine Minute die Klappe halten und mich nachdenken lassen.«
Ich starrte ihn an. Abrupt stand er auf und holte sich neuen Kaffee. Einen Moment lang blieb er an der Theke stehen und kehrte mir den Rücken zu; er stützte sich mit beiden Händen auf die Arbeitsplatte. Dann drehte er sich um.
»Entschuldige«, sagte er müde. »Es ist bloß nicht sehr angenehm, auf etwas zurückzuschauen, auf das man sehr viel Mühe und Nachdenken verwendet hat, nur um zu erkennen, daß es völlig lächerlich ist. Giftige Pilze. Die ganze Idee klingt wie etwas von Sir Walter Scott.«
Ich war verblüfft. »Aber ich fand die Idee irgendwie gut«, sagte ich.
Er rieb sich die Augen mit Daumen und Zeigefinger. »Zu gut«, sagte er. »Ich nehme an, wenn jemand, der gewohnt ist, mit dem Kopf zu arbeiten, sich plötzlich gezwungen sieht, energisch zu handeln, neigt er dazu, zu verspielt an die Tat heranzugehen und sie über die Maßen raffiniert zu gestalten. Auf dem Papier hat die Sache eine gewisse Symmetrie. Aber jetzt, wo ich mit der Aussicht konfrontiert bin, sie auszuführen, erkenne ich, wie schauderhaft kompliziert sie ist.«
»Was stimmt denn nicht?«
Er rückte seine Brille zurecht. »Das Gift wirkt zu langsam.«
»Ich dachte, das wolltest du so.«
»Aber damit verbindet sich ein halbes Dutzend Probleme. Auf einige hast du schon hingewiesen. Die Dosierung ist riskant, aber die Zeit, glaube ich, ist das eigentlich Besorgniserregende. Von meinem Standpunkt aus – je länger, desto besser, aber trotzdem ... In zwölf Stunden kann einer eine Menge reden.« Er schwieg für einen Moment. »Es ist nicht so, als hätte ich das nicht schon die ganze Zeit gesehen. Die Vorstellung, ihn zu töten, ist so abstoßend, daß ich außerstande bin, sie anders zu betrachten denn als ein Schachproblem. Ein Spiel. Du kannst dir nicht vorstellen, wieviel Nachdenken ich darauf verwandt habe. Bis hin zu der Giftsorte. Es heißt, es läßt den Schlund anschwellen, weißt du das? Die Opfer, sagt man, sind stumm und können nicht mehr sagen, wer sie vergiftet hat.« Er seufzte. »Es ist zu einfach, mich mit den Medici zu amüsieren, mit den Borgia, all den vergifteten Ringen und Rosen ... Das geht, wußtest du das? Eine Rose vergiften, die man dann verschenkt? Die Lady sticht sich in den Finger und fällt tot um. Ich weiß, wie man eine Kerze macht, die tötet, wenn man sie in einem geschlossenen Raum brennen läßt. Oder wie man ein Kopfkissen vergiftet, oder ein Gebetbuch ...«
Ich sagte: »Was ist mit Schlaftabletten?«
Er sah mich verärgert an.
»Im Ernst. Die Leute sterben doch dauernd dran.«
»Und woher sollen wir Schlaftabletten bekommen?«
»Das hier ist Hampden College. Wenn wir Schlaftabletten wollen, kriegen wir welche.«
Wir sahen einander an.
»Und wie würden wir sie ihm verabreichen?«
»Wir sagen, es sind Kopfschmerztabletten. Tylenol.«
»Und wie bringen wir ihn dazu, neun oder zehn Tylenol zu schlucken?«
»Wir könnten sie in einem Glas Whiskey auflösen.«
»Hältst du es für wahrscheinlich, daß Bunny ein Glas Whiskey trinkt, in dem massenhaft weißes Pulver auf dem Boden liegt?«
»Ich denke, das ist ebenso wahrscheinlich, wie daß er einen Teller Giftpilze essen wird.«
Es trat lange Stille ein, derweil draußen vor dem Fenster ein Vogel lärmend trillerte. Henry schloß die Augen und rieb sich mit den Fingerspitzen die Schläfen.
»Was hast du vor?«
»Ich denke, ich werde jetzt losziehen und ein paar Besorgungen erledigen«, sagte er. »Du mußt nach Hause gehen und schlafen.«
»Hast du irgendeine Idee?«
»Nein. Aber es gibt da etwas, was ich mir näher ansehen möchte. Ich würde dich zur Schule hinüberfahren, aber ich glaube, es wäre keine gute Idee, wenn wir uns gerade jetzt zusammen sehen lassen würden.« Er fing an, in der Tasche seines Bademantels zu wühlen, und förderte Streichhölzer,
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