Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
Henry nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. »Also«, sagte er und blies den Rauch von sich. »Haken wir ab: Marion und Cloke hat er nichts gesagt, weil er fürchtet, sie könnten es weitererzählen. Seinen Eltern hat er aus demselben Grund nichts gesagt, und wahrscheinlich wird er es auch nur als letzte Rettung in Betracht ziehen. Welche Möglichkeiten bleiben ihm also? Nur zwei. Er könnte zu Julian gehen – der ihm nicht glauben würde –, oder zu dir, denn du würdest ihm vielleicht glauben, und du würdest es nicht weitererzählen.«
Ich starrte ihn an. »Das sind Vermutungen«, sagte ich schließlich.
»Überhaupt nicht. Glaubst du, wenn er es jemandem erzählt hätte, säßen wir jetzt hier? Glaubst du, er wäre jetzt, nachdem er es dir erzählt hat, tollkühn genug, sich an einen Dritten zu wenden, ehe er weiß, wie du reagieren wirst? Weshalb, glaubst du, hat er dich heute nachmittag angerufen? Weshalb, glaubst du, hat er uns den ganzen Tag über genervt?«
Ich antwortete nicht.
»Weil er«, sagte Henry, »das Terrain sondieren wollte. Gestern nacht war er betrunken und im Vollgefühl seiner selbst. Heute ist er aber nicht mehr so sicher, was du darüber denkst. Er möchte noch eine Meinung einholen. Und wie er sich entscheidet, hängt von deiner Reaktion ab.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte ich.
Henry nahm einen Schluck Kaffee. »Was verstehst du nicht?«
»Wieso hast du es so verdammt eilig, ihn umzubringen, wenn du glaubst, daß er es niemandem außer mir erzählt?«
Er zuckte die Achseln. »Noch hat er es niemandem erzählt. Aber das heißt nicht, daß er es nicht sehr bald tun wird.«
»Vielleicht könnte ich es ihm ausreden.«
»Darauf will ich es, offen gesagt, nicht ankommen lassen.«
»Meiner Meinung nach redest du hier aber über ein viel größeres Risiko.«
»Hör zu«, sagte Henry, hob den Kopf und schaute mich mit glasigem Blick an. »Entschuldige, daß ich es so unverblümt sage, aber wenn du glaubst, du hättest irgendeinen Einfluß auf Bunny, befindest du dich in einem betrüblichen Irrtum. Er kann dich nicht besonders gut leiden, und, wenn ich offen sprechen darf, soweit ich weiß, konnte er es noch nie. Es wäre katastrophal, wenn ausgerechnet du versuchen wolltest, da einzugreifen.«
»Ich war derjenige, zu dem er gegangen ist.«
»Aus naheliegenden Gründen, und keiner davon ist besonders sentimental.« Er zuckte die Achseln. »Solange ich sicher war, daß er es niemandem erzählt hatte, hätten wir auf unbestimmte Zeit abwarten können. Aber du warst die Alarmglocke, Richard. Nachdem er es dir erzählt hat – es ist nichts passiert, und er wird finden, es war gar nicht so schlimm –, wird es ihm doppelt leicht fallen, es noch jemandem zu erzählen. Und dann einem Dritten. Er hat den ersten Schritt auf eine abschüssige Bahn getan. Nachdem das nun geschehen ist, habe ich das Gefühl, daß wir eine lawinenartige Abfolge von weiteren Dummheiten zu gewärtigen haben.«
Meine Handflächen waren feucht. Obwohl das Fenster offen war, kam mir das Zimmer drückend und stickig vor. Ich hörte alle atmen: ruhige, gemessene Atemzüge, die mit schrecklicher Regelmäßigkeit kamen und gingen, vier Lungen, die den dünnen Sauerstoff verzehrten.
Henry verschränkte die Finger und streckte die Arme vor sich
aus, bis die Fingergelenke knackten. »Du kannst jetzt gehen, wenn du möchtest«, sagte er zu mir.
»Soll ich?« fragte ich scharf.
»Du kannst bleiben oder nicht«, sagte er. »Aber es gibt keinen Grund, weshalb du müßtest. Ich wollte dir eine ungefähre Vorstellung geben, aber in gewissem Sinne ist es um so besser, je weniger Einzelheiten du weißt.« Er gähnte. »Es gab vermutlich ein paar Dinge, die du wissen mußtest, aber ich glaube, ich habe dir einen schlechten Dienst erwiesen, indem ich dich so weit hereingezogen habe.«
Ich stand auf und blickte in die Runde. »Okay«, sagte ich. »Okay, okay, okay.« Francis sah mich mit hochgezogener Braue an.
»Wünsch uns Glück«, sagte Henry.
Ich klopfte ihm unbeholfen auf die Schulter. »Viel Glück«, sagte ich.
Charles zog – ohne daß Henry ihn sah – meinen Blick auf sich. Er lächelte und formte mit dem Mund die Worte: Ich rufe dich morgen an, okay?
Plötzlich und ganz unverhofft überkam mich eine Woge der Emotion. Ich fürchtete, ich könnte gleich etwas Kindisches sagen oder tun, etwas, das ich bedauern würde, und so zog ich meinen Mantel an, stürzte meinen restlichen Kaffee in einem langen
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