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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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dürfte nicht mehr als zwei Minuten dauern. Und wenn er doch bei Bewußtsein sein sollte, könnten zwei von uns vielleicht sogar hinuntersteigen und ihn hinführen ...«
    Charles strich sich mit einer Hand über die feuchte, gerötete Stirn. »O Jesus«, flüsterte er. »O mein Gott. Hört euch an, was wir da reden.«
    »Was ist los?«
    »Sind wir wahnsinnig?«
    »Wovon redest du?«
    »Wir sind wahnsinnig. Wir haben den Verstand verloren. Wie können wir das denn tun ? «
    »Die Idee gefällt mir genauso wenig wie dir.«
    »Aber das ist verrückt. Ich weiß nicht, wie wir auch nur darüber reden können. Wir müssen uns etwas anderes überlegen.«
    Henry nahm einen Schluck Kaffee. »Wenn dir etwas einfällt«, sagte er, »würde ich es mit Vergnügen hören.«
    »Na ja – ich meine, wieso können wir nicht einfach abhauen ? Wir setzen uns heute abend in den Wagen und fahren weg.«
    »Und wohin?« fragte Henry trocken. »Mit welchem Geld?«
    Charles schwieg.
    »Also«, sagte Henry und zog mit dem Bleistift einen Strich auf der Karte. »Ich denke, es wird ziemlich einfach sein, ungesehen zu verschwinden, obwohl wir besonders vorsichtig sein müssen, wenn wir in den Holzweg einbiegen und wenn wir nachher wieder auf den Highway hinausfahren.«
    »Nehmen wir meinen Wagen oder deinen?« fragte Francis.
    »Meinen, denke ich. Bei einem Wagen wie deinem schauen die Leute zweimal hin.«
    »Vielleicht sollten wir einen mieten.«
    »Nein. So etwas könnte alles verderben. Wenn wir alles so beiläufig wie möglich halten, wird kein Mensch uns eines Blickes würdigen. Auf neunzig Prozent dessen, was die Leute sehen, achten sie überhaupt nicht.«
    Es entstand eine Pause.
    Charles hüstelte. »Und dann?« fragte er. »Fahren wir einfach nach Hause?«
    »Wir fahren einfach nach Hause.« Henry zündete sich eine Zigarette an. »Wirklich, es gibt keinen Grund zur Sorge«, sagte er und schüttelte das Streichholz aus. »Es sieht riskant aus, aber wenn man es logisch betrachtet, könnte es nicht ungefährlicher sein. Es wird überhaupt nicht aussehen wie ein Mord. Und wer weiß denn, daß wir Grund haben, ihn umzubringen? Ich weiß, ich weiß«, sagte er ungeduldig, als ich ihn unterbrechen wollte. »Aber es würde mich sehr wundern, wenn er es noch jemandem erzählt hätte.«
    »Wie willst du wissen, was er getan hat? Er könnte es jedem zweiten auf der Party erzählt haben!«
    »Aber ich bin bereit, darauf zu wetten, daß er es nicht getan hat. Bunny ist natürlich unberechenbar, aber zum jetzigen Zeitpunkt gehorchen seine Aktionen immer noch einer Art von rudimentärem Pferdeverstand. Ich hatte sehr guten Grund zu der Annahme, daß er es dir zuerst erzählen würde.«
    »Nämlich?«
    »Du hältst es doch sicher nicht für einen Zufall, daß er von allen Leuten, denen er es hätte erzählen können, ausgerechnet dich ausgesucht hat?«
    »Keine Ahnung; ich war einfach leichter zu erreichen als irgend jemand sonst.«
    »Nein, er konnte es schlicht niemand sonst erzählen«, sagte Henry ungeduldig. »Er würde niemals geradewegs zur Polizei gehen. Er hätte dabei genauso viel zu verlieren wie wir. Und aus demselben Grund wagt er auch nicht, einem Fremden etwas zu
sagen. Und damit bleibt ihm ein extrem begrenztes Spektrum von potentiellen Vertrauenspersonen. Marion zum einen. Seine Eltern zum andern. Cloke zum dritten. Julian als externe Möglichkeit. Und du.«
    »Und weshalb glaubst du, daß er beispielsweise Marion noch nichts erzählt hat?«
    »Bunny mag dumm sein, aber so dumm ist er nicht. Bis zum nächsten Mittag wüßte die ganze Schule Bescheid. Cloke ist aus anderen Gründen eine schlechte Wahl. Bei ihm ist die Gefahr, daß er den Kopf verliert, nicht ganz so groß, aber vertrauenswürdig ist er trotzdem nicht. Flatterhaft und verantwortungslos. Und so egozentrisch. Bunny mag ihn – ich glaube, er bewundert ihn sogar –, aber mit einer solchen Sache würde er niemals zu ihm gehen. Und seinen Eltern würde er in einer Million Jahren nichts erzählen. Sie würden sich sicher hinter ihn stellen, aber zweifellos würden sie schnurstracks zur Polizei gehen.«
    »Und Julian?«
    Henry zuckte die Achseln. »Nun, Julian könnte er es erzählen. Das will ich sofort einräumen. Aber er hat es noch nicht getan, und ich denke, wahrscheinlich wird er es auch nicht tun, zumindest vorläufig nicht.«
    »Warum nicht?«
    Henry zog eine Braue hoch und sah mich an. »Was glaubst du, wem Julian mehr glauben würde?«
    Niemand sagte etwas.

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