Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
Zwillinge und ich sollten uns trennen und zu Fuß weitergehen – ich zum Campus, die Zwillinge in ihre Wohnung –, während Henry und Francis sich um den Wagen kümmerten. Henry stellte den Motor ab. Die Stille war gespenstisch.
Er sah mich im Rückspiegel an. »Wir müssen uns noch kurz unterhalten«, sagte er.
»Was gibt’s denn?«
»Wann hast du dein Zimmer verlassen?«
»Gegen viertel vor drei.«
»Hat dich jemand gesehen?«
»Eigentlich nicht. Nicht daß ich wüßte.«
Der Wagen kühlte nach der langen Fahrt ab; tickend und zischend sank er zufrieden in sich zusammen. Henry schwieg einen Moment und wollte gerade weitersprechen, als Francis aus dem Fenster deutete. »Guckt mal«, sagte er. »Ist das Schnee ? «
Die Zwillinge zogen die Köpfe ein, um hinauszuschauen. Henry nagte an seiner Unterlippe und kümmerte sich nicht darum. »Wir vier«, sagte er schließlich, »waren in einer Matinee-Vorstellung im Orpheum in der Stadt – ein Double Feature, das von eins bis vier Uhr fünfundfünfzig dauerte. Danach haben wir eine kurze Spazierfahrt gemacht und sind um« – er sah auf die Uhr – »um viertel nach
fünf zurückgekommen. Damit wäre geklärt, wie wir die Zeit verbracht haben. Was wir mit dir anfangen sollen, weiß ich nicht so genau.«
»Wieso kann ich nicht sagen, daß ich mit euch zusammen war?«
»Weil du es nicht warst.«
»Wer kann das wissen?«
»Die Kartenverkäuferin im Orpheum, die kann das wissen. Wir sind nämlich da gewesen und haben Karten für die Nachmittagsvorstellung gekauft, und wir haben mit einem Hundert-Dollar-Schein bezahlt. Sie erinnert sich an uns, das kann ich dir versichern. Wir haben in der Loge gesessen und sind durch den Notausgang hinausgeschlichen, als der erste Film ungefähr fünfzehn Minuten gelaufen war.«
»Wieso kann ich mich nicht dort mit euch getroffen haben?«
»Könntest du ja, aber du hast kein Auto. Und du kannst nicht behaupten, du hättest ein Taxi genommen, weil das leicht nachzuprüfen ist. Außerdem bist du draußen herumgelaufen. Du sagst, du warst im Commons, bevor du uns getroffen hast?«
»Ja.«
»Dann kannst du vermutlich nichts anderes sagen, als daß du geradewegs nach Hause gegangen bist. Es ist keine ideale Story, aber zum jetzigen Zeitpunkt hast du keine nennenswerte Alternative. Wir werden so tun müssen, als hättest du dich irgendwann nach dem Film mit uns getroffen, für den durchaus wahrscheinlichen Fall, daß uns jemand gesehen hat. Sagen wir, wir haben dich um fünf Uhr angerufen und uns mit dir auf dem Parkplatz getroffen. Du bist mit uns zu Francis gefahren – das klingt wirklich ziemlich holprig, aber es wird reichen müssen – und dann zu Fuß wieder nach Hause gegangen.«
»Okay.«
»Wenn du nach Hause kommst, sieh unten nach, ob zwischen halb vier und fünf irgendwelche telefonischen Nachrichten für dich hinterlassen worden sind. Wenn ja, müssen wir uns einen Grund dafür ausdenken, daß du nicht ans Telefon gegangen bist.«
»Guckt doch mal«, sagte Charles. »Es schneit wirklich.«
Winzige Flöckchen, von den Wipfeln der Fichten gerade zu erkennen.
»Eins noch«, sagte Henry. »Wir wollen uns nicht so benehmen, als warteten wir nur darauf, eine schwerwiegende Neuigkeit zu erfahren. Geht nach Hause. Lest ein Buch. Ich denke, wir sollten
nicht versuchen, miteinander Kontakt aufzunehmen – es sei denn natürlich, es wäre absolut nötig.«
»Ich habe noch nie erlebt, daß es so spät im Jahr schneit«, sagte Francis. »Gestern waren es fast zwanzig Grad.«
»Haben sie das vorhergesagt?« fragte Charles.
»Nicht daß ich wüßte.«
»O Gott. Seht euch das an. Wir haben bald Ostern.«
»Ich verstehe nicht, wieso ihr so aufgekratzt seid«, sagte Henry verärgert. »Davon gehen nur alle Blüten kaputt.«
Ich ging schnell nach Hause, denn es war kalt. Novemberstille senkte sich wie ein tödlicher Spuk auf die Aprillandschaft. Der Schnee fiel jetzt richtig – dicke, lautlose Blütenblätter wehten durch den Frühlingswald, weiße Bouquets, die in Schneedunkel übergingen: eine alptraumhafte verkehrte Welt, etwas aus dem Märchenbuch. Mein Weg führte mich unter einer Reihe Apfelbäume vorbei, die in voller Blüte leuchtend dastanden; im Zwielicht bebten sie wie eine Allee von fahlen Schirmen. Die großen weißen Flocken wehten zwischen ihnen hindurch, traumhaft und weich. Ich aber blieb nicht stehen, sondern lief nur noch schneller unter ihnen dahin. Nach meinem Winter in Hampden graute mir
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