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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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gewesen zu sein, ein Stein, in den Teich geworfen und auf den Grund gesunken, fast ohne den Wasserspiegel zu kräuseln. Auch der zweite war einfach, zuerst jedenfalls, aber ich hatte keine Ahnung, wie anders sich die Sache diesmal entwickeln würde. Was wir für einen harmlosen, gewöhnlichen Klotz gehalten hatten (ein sanfter Plumps, und das Ganze sinkt schnell auf den Grund, und das dunkle Wasser
schließt sich spurlos darüber), war tatsächlich eine Zeitbombe, die ganz ohne Vorwarnung unter der glasklaren Oberfläche explodierte, und der Widerhall der Explosion ist womöglich noch heute nicht ganz vorüber.
    Gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts unternahm der italienische Physiker Galileo Galilei diverse Experimente zur Natur fallender Körper; er warf (so heißt es) Gegenstände vom Turm von Pisa, um ihre Beschleunigung zu messen, wenn sie fielen. Er fand folgendes heraus: Fallende Körper gewinnen Geschwindigkeit, während sie fallen. Je tiefer ein Körper fällt, desto schneller bewegt er sich. Die Geschwindigkeit des fallenden Körpers ist gleich der Beschleunigung durch die Erdanziehungskraft, multipliziert mit der Dauer des Falls in Sekunden. Kurz: Unter Berüclcsichtigung der Variablen in unserem Fall bewegte sich der stürzende Körper mit einer Geschwindigkeit von mehr als zweiunddreißig Fuß pro Sekunde, als er unten auf die Steine aufschlug.
    Sie sehen also, wie schnell es ging. Und es ist unmöglich, diesen Film langsamer laufen zu lassen und die Einzelbilder zu betrachten. Ich sehe jetzt, was ich damals sah, und es zieht blitzartig vorbei, mit der geschwinden, trügerischen Leichtigkeit eines Unfalls: Kieselsteine prasseln, Arme fuchteln wie Windmühlenflügel, eine Hand krallt nach einem Zweig, verfehlt ihn. Erschrockenes Krächzen explodiert salvenartig im Unterholz, Schreie und dunkles Flattern vor dem Himmel. Schnitt auf Henry, der vom Rand zurückweicht. Dann flattert das Ende des Films im Projektor, und die Leinwand wird dunkel. Consummatum est.
    Wenn ich nachts im Bett liege, bin ich unfreiwilliger Zuschauer bei diesem abscheulichen kleinen Dokumentarfilm (er geht weg, wenn ich die Augen aufschlage, aber wenn ich sie dann schließe, fängt er unermüdlich wieder ganz von vorn an), und ich sehe mit Staunen, wie unbeteiligt er aufgenommen ist, wie ungewöhnlich in seinen Details, wie weitgehend frei von emotionaler Kraft er ist. In dieser Hinsicht spiegelt er das Erlebnis in meiner Erinnerung genauer wider, als man sich vorstellen möchte. Die Zeit und die wiederholten Aufführungen haben die Erinnerung mit einer Bedrohlichkeit ausgestattet, die das Original nicht besaß. Ich beobachtete alles ganz ruhig, als es geschah – ohne Angst, ohne Mitleid, ohne irgend etwas außer einer Art starrer Neugier –, so daß der Eindruck des Ereignisses unauslöschlich in meine Sehnerven eingebrannt, aber in meinem Herzen seltsam abwesend ist.
    Es vergingen etliche Stunden, bevor ich erkannte, was wir getan
hatten, Tage (Monate? Jahre?), bis ich anfing, es in seiner ganzen Größe zu begreifen. Ich nehme an, wir hatten einfach zu vief darüber nachgedacht, zu oft darüber geredet – bis der Plan aufgehört hatte, eine Angelegenheit der Phantasie zu sein und ein grauenhaftes Eigenleben gewonnen hatte ... Nicht ein einziges Mal kam mir damals der Gedanke, daß alles das etwas anderes als ein Spiel sei. Ein Hauch von Unwirklichkeit durchdrang noch die alltäglichsten Details, als planten wir nicht den Tod eines Freundes, sondern den Ablauf einer fabelhaften Reise, von der ich persönlich eigentlich nie glaubte, daß wir sie tatsächlich unternehmen würden.
    Was man nicht denken kann, kann man auch nicht tun . Das ist einer der Sätze, die Julian im Griechischunterricht zu sagen pflegte; ich glaube zwar, daß er es sagte, um uns zu größerer Rigorosität in unseren geistigen Gewohnheiten zu ermutigen, aber es hat doch auch eine gewisse perverse Bedeutung für die in Frage stehende Angelegenheit. Der Gedanke, Bunny zu ermorden, war grauenhaft, unmöglich; gleichwohl beschäftigten wir uns unaufhörlich damit, redeten uns ein, daß es keine Alternative gebe, entwarfen Pläne, die ein wenig unwahrscheinlich und lächerlich erschienen, die aber tatsächlich ganz gut funktionierten, wenn man sie auf die Probe stellte ... Ich weiß es nicht. Einen oder zwei Monate zuvor wäre ich beim bloßen Gedanken an einen Mord entsetzt gewesen. Aber an diesem Sonntagnachmittag, als ich tatsächlich dastand und einen

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