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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Gedanke: Ist es jetzt so? Wird es so von jetzt an sein?
    Ich schaute auf die Uhr. Kaum eine Minute war vergangen. Ich stand auf, machte mir nicht erst die Mühe, meine Zimmertür hinter mir abzuschließen, und ging den Gang hinunter zu Judys Zimmer. Durch irgendein Wunder war sie da – betrunken und dabei, sich Lippenstift aufzulegen. »Hi«, sagte sie, ohne den Blick vom Spiegel zu wenden. »Willst du zu ’ner Party?«
    Ich weiß nicht, was ich zu ihr sagte, irgend etwas Unzusammenhängendes darüber, daß ich mich nicht wohl fühlte.
    »Nimm ein Brötchen«, sagte sie und drehte den Kopf hin und her, um ihr Profil zu begutachten.
    »Ich hätte lieber eine Schlaftablette, wenn du welche da hast.«
    Sie drehte den Lippenstift herunter, drückte die Kappe fest und zog eine Kommodenschublade auf. Es war eigentlich keine Kommode, sondern ein Schreibtisch, College-Einrichtung, ganz wie der in meinem eigenen Zimmer; aber Judy hatte mit peinlicher
Sorgfalt einen Kosmetiktisch daraus gemacht: mit einer Glasplatte, einem gekräuselten Satinvolant und einem dreiteiligen Spiegel, der sich beleuchten ließ. Sie wühlte in einem Alptraum von Schminkdöschen und Farbstiften, grub eine Medizinflasche aus, hielt sie ans Licht, warf sie in den Papierkorb und förderte eine andere zutage. »Das hier wird gehen«, sagte sie und reichte sie mir.
    Ich betrachtete die Flasche. Zwei graue Tabletten lagen auf dem Boden. Auf dem Etikett stand nur »Gegen Schmerzen«.
    Verärgert fragte ich: »Was ist das? Anacin?«
    »Probier eine. Die sind okay. Das Wetter ist ziemlich irre, was?«
    »Yeah«, sagte ich, schluckte eine Pille und gab ihr die Flasche zurück.
    »Keine Sorge, kannst du behalten«, sagte sie und hatte sich schon wieder ihrer Toilette zugewandt. »Fuck. Alles, was es hier macht, ist schneien. Ich weiß nicht, wieso, zum Teufel, ich je hergekommen bin. Willst du ein Bier?«
    Sie hatte einen Kühlschrank im Zimmer, in ihrem Wandschrank. Ich kämpfte mich durch einen Dschungel von Gürteln und Hüten und Strümpfen zu ihm durch.
    »Nein, ich will keins«, sagte sie, als ich ihr auch eine Flasche entgegenhielt. »Bin zu sehr im Arsch. Du warst nicht auf der Party, was?«
    »Nein«, sagte ich und hielt inne, die Bierflasche vor dem Mund. Da war etwas mit dem Geschmack, mit dem Geruch – und dann erinnerte ich mich: Bunny mit bierdunstigem Atem, verschüttetes Bier schäumend auf der Erde. Die Flasche, die hinter ihm an der Steilwand herunterklirrte.
    »Guter Schachzug«, meinte Judy. »Es war kalt, und die Band war beschissen. Ich hab’ deinen Freund gesehen, wie heißt er gleich? Den Colonel.«
    »Was?«
    Sie lachte. »Du weißt schon. Laura Stora nennt ihn so. Sie hat früher neben ihm gewohnt, und er ist ihr beschissen auf die Nerven gegangen, weil er dauernd seine John-Philip-Sousa-Märsche spielte.«
    Sie meinte Bunny. Ich stellte die Flasche hin.
    Aber Judy war, Gott sei Dank, mit ihrem Augenbrauenstift beschäftigt. »Weißt du«, sagte sie, »ich glaube, Laura hat ’ne Eßstörung. Keine Anorexie, aber was Karen Carpenter hatte – wo man sich dauernd zum Kotzen zwingt. Gestern abend war ich mit ihr und Tracy in der Brasserie, und – echt – sie stopfte sich total voll,
bis sie nicht mehr atmen konnte. Dann ging sie aufs Männerklo, um zu reihern, und Tracy und ich guckten uns an – ich meine, ist das normal? Und dann erzählte Tracy mir, na ja, weißt du noch, wie Laura angeblich im Krankenhaus war wegen Pfeifferschem Drüsenfieber? Also. In Wirklichkeit ... «
    Sie plapperte immer weiter. Ich starrte sie an, in meine eigenen schreckliche Gedanken versunken.
    Plötzlich merkte ich, daß sie aufgehört hatte zu reden. Sie schaute mich erwartungsvoll an und wartete auf eine Antwort.
    »Was?« fragte ich.
    »Ich sage, hast du so was Retardiertes schon mal gehört? Ihren Eltern ist offenbar alles scheißegal.« Sie schloß ihre Make-up-Schublade und drehte sich zu mir um. »Na jedenfalls. Willst du mit auf die Party?«
    »Bei wem?«
    »Jack Teitelbaum, du taube Nuß. In Durbinstall im Keller. Sids Band soll angeblich spielen, und Moffat ist wieder am Schlagzeug. Und jemand sagte was von ’ner Go-Go-Tänzerin in ’nem Käfig. Komm schon.«
    Aus irgendeinem Grund war ich nicht in der Lage, ihr zu antworten. Die bedingungslose Ablehnung jeder Einladung von Judy war ein Reflex, der mir so sehr in Fleisch und Blut übergegangen war, daß es mir schwerfiel, ja zu sagen. Dann dachte ich an mein Zimmer. Bett, Schrank,

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