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Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)

Titel: Die geheime Geschichte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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vor Schnee.
    Unten war keine Nachricht für mich. Ich ging auf mein Zimmer und zog mich um. Ich konnte mich nicht entschließen, was ich mit den alten Sachen anfangen sollte. Ich erwog, sie zu waschen, aber ich fragte mich, ob das nicht verdächtig aussehen würde und stopfte schließlich alles zuunterst in meinen Wäschesack. Dann setzte ich mich auf mein Bett und schaute auf die Uhr.
    Es war Zeit zum Abendessen, und ich hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen, aber ich war nicht hungrig. Ich ging zum Fenster und betrachtete die Schneeflocken, die in den hohen Lichtbogen über den Tennisplätzen wirbelten, und dann ging ich wieder zum Bett und setzte mich.
    Die Minuten tickten vorüber. Die Anästhesie, die mich über den Nachmittag gebracht hatte, klang langsam ab, und mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde die Vorstellung, die ganze Nacht allein herumzusitzen, unerträglicher. Ich schaltete das Radio ein, schaltete es wieder ab, versuchte zu lesen. Als ich merkte, daß ich mich auf das eine Buch nicht konzentrieren konnte, versuchte ich es mit einem anderen. Kaum zehn Minuten waren vergangen. Ich nahm das erste Buch von neuem in die Hand und legte es gleich wieder
beiseite. Dann ging ich wider besseres Wissen hinunter zum Münztelefon und wählte Francis’ Nummer.
    Er meldete sich beim ersten Läuten. »Hi«, sagte er, als ich gesagt hatte, daß ich es sei. »Was gibt’s?«
    »Nichts.«
    »Bist du sicher?«
    Ich hörte Henry im Hintergrund etwas murmeln. Francis schien den Hörer zur Seite zu drehen; er sagte etwas, das ich nicht verstand.
    »Was macht ihr da?« fragte ich.
    »Nichts Besonderes. Wir trinken ein Glas. Warte mal ’ne Sekunde, ja?« sagte er, als neuerliches Gemurmel zu hören war.
    Es folgte eine Pause, ein unverständlicher Wortwechsel – und dann hörte ich Henrys forsche Stimme. »Was ist los? Wo bist du?«
    »Zu Hause.«
    »Was ist denn passiert?«
    »Ich dachte bloß, ich könnte vielleicht auf ein Glas rüberkommen oder so was.«
    »Das ist keine gute Idee. Ich wollte gerade gehen, als du anriefst.«
    »Was hast du denn vor?«
    »Na, wenn du’s genau wissen willst, ich werde ein Bad nehmen und ins Bett gehen.«
    Die Leitung war für einen Augenblick stumm.
    »Bist du noch da?« fragte Henry dann.
    »Henry, ich werde hier verrückt. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
    »Na, mach, was du willst«, sagte Henry liebenswürdig. »Solange du in der Nähe deines Zimmers bleibst.«
    »Ich begreife nicht, was es für einen Unterschied macht, ob ich ...«
    »Wenn dir etwas Kopfzerbrechen bereitet«, unterbrach Henry mich abrupt, »hast du dann schon mal versucht, in einer fremden Sprache zu denken?«
    »Was?«
    »Es läßt dich langsamer werden. Verhindert, daß deine Gedanken durchdrehen. Eine gute Übung unter allen Umständen. Oder du könntest versuchen, zu tun, was die Buddhisten tun.«
    »Was ?«
    »Im Zen gibt es eine Übung namens mudra . Man sitzt vor einer kahlen Wand. Ganz gleich, was man empfindet, ganz gleich, wie
stark oder heftig die Emotionen sind, man bleibt regungslos sitzen. Schaut die Wand an. Die Übung besteht natürlich darin, immer weiter dazusitzen.«
    In dem folgenden Schweigen bemühte ich mich, eine Sprache zu finden, in der ich angemessen zum Ausdruck bringen könnte, was ich von diesem bescheuerten Rat hielt.
    »Jetzt hör mal zu«, fuhr er fort, bevor ich etwas sagen konnte. »Ich bin erschöpft. Wir sehen uns morgen im Unterricht, okay?«
    »Henry«, sagte ich, aber er hatte schon aufgelegt.
    In einer Art Trance ging ich die Treppe hinauf. Ich lechzte nach einem Drink, aber ich hatte nichts zu trinken. Ich setzte mich auf mein Bett und schaute aus dem Fenster.
    Meine Schlaftabletten waren alle. Ich wußte, daß sie aufgebraucht waren, aber ich ging doch zu meinem Schreibtisch und schaute in das Fläschchen, für alle Fälle. Es war leer bis auf ein paar Vitamin-C-Tabletten, die ich von der Krankenstation bekommen hatte. Kleine weiße Pillen. Ich schüttete sie auf den Schreibtisch, legte sie zu einem Muster, und dann nahm ich eine und hoffte, daß der Reflex des Schluckens mein Befinden bessern würde, aber er tat es nicht.
    Ich saß ganz still da und versuchte, nicht zu denken. Es war, als wartete ich auf etwas. Ich wußte nicht genau, auf was – irgend etwas, das die Spannung lösen würde, obwohl ich mir nichts vorstellen konnte, was diese Wirkung hätte haben können. Es schien, als sei eine Ewigkeit vergangen. Plötzlich kam mir ein grauenhafter

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