Die geheime Geschichte: Roman (German Edition)
Schreibtisch. Aufgeschlagene Bücher, die da lagen, wo ich sie hingelegt hatte.
»Komm doch«, sagte sie kokett. »Nie gehst du mit mir aus.«
»Okay«, sagte ich schließlich. »Ich will nur meinen Mantel holen.«
Erst sehr viel später erfuhr ich, was Judy mir gegeben hatte: Demerol. Winkel, Farben, der Sturm der Schneeflocken, das Getöse von Sids Band – alles war sanft und gütig und grenzenlos verzeihend. Ich sah eine seltsame Schönheit in den Gesichtern von Leuten, die mir bis dahin zuwider gewesen waren. Ich lächelte jedermann an, und jedermann lächelte zurück.
Judy (Judy! Gott segne sie!) ließ mich mit ihrem Freund Jack Teitelbaum und einem Kerl namens Lars stehen und zog ab, um uns etwas zu trinken zu besorgen. Alles war von himmlischem Licht durchflutet. Ich hörte zu, wie Jack und Lars sich über Flipper und Motorräder und Frauen-Kickboxen unterhielten, und ihre Versuche, mich in ihr Gespräch mit einzubeziehen, wärmten mir
das Herz. Lars bot mir einen Joint an. Ich fand diese Geste ungeheuer anrührend, und ganz plötzlich dämmerte mir, daß ich mich in all diesen Leuten getäuscht hatte. Dies waren gute Menschen, gewöhnliche Menschen, das Salz der Erde, Menschen, die zu kennen ich mich glücklich schätzen konnte.
Ich suchte nach einer Möglichkeit, diese Epiphanie in Worte zu fassen, als Judy mit den Drinks zurückkam. Ich trank meinen aus, wanderte davon, um einen neuen zu besorgen, streifte unversehens in fließender, angenehmer Benommenheit umher. Jemand gab mir eine Zigarette. Jud und Frank waren da, Jud mit einer seltsam schmeichelhaften Krone – aus Pappe, vom Burger King – auf dem Kopf. Wie er den Kopf so in den Nacken warf und heulte vor Lachen, und wie er dabei einen mächtigen Bierhumpen schwenkte, sah er aus wie Cuchulain, Brian Boru, irgendein sagenhafter irischer König. Cloke Rayburn spielte in einem hinteren Zimmer Pool. Ich stand knapp außerhalb seines Gesichtsfeldes und sah zu, wie er seinen Queue einkreidete, ohne zu lächeln, und wie er sich über den Tisch beugte, so daß ihm die Haare ins Gesicht fielen. Klick. Die bunten Kugeln kreiselten in alle Richtungen auseinander. Lichtflecken schwammen vor meinen Augen. Ich dachte an Atome, Moleküle, an Dinge, die so klein waren, daß man sie nicht mal sehen konnte.
Dann weiß ich, daß mir schwindlig wurde und daß ich mich durch die Menge drängte, um an die frische Luft zu kommen. Ich sah die Tür, die von einem Mauerstein einladend aufgehalten wurde, fühlte einen kalten Luftzug auf meinem Gesicht. Und dann – ich weiß es nicht; der Film muß mir gerissen sein, denn als nächstes lehnte ich an einem völlig anderen Ort mit dem Rücken an der Wand, und ein fremdes Mädchen redete mit mir.
Allmählich wurde mir klar, daß ich schon eine ganze Weile mit ihr dagestanden haben mußte. Ich blinzelte und mühte mich tapfer, meinen Blick auf sie zu schärfen. Sehr hübsch, auf eine stubsnasige, gutmütige Art; dunkles Haar, Sommersprossen, hellblaue Augen. Ich hatte sie schon mal gesehen, irgendwo, vielleicht in der Schlange vor der Bar, hatte sie gesehen, ohne weiter auf sie zu achten. Und nun war sie wieder hier, wie eine Erscheinung, trank Rotwein aus einem Platikbecher und nannte mich beim Vornamen.
Ich konnte nicht verstehen, was sie sagte, obwohl das Timbre ihrer Stimme klar durch den Lärm klang: fröhlich, ausgelassen, merkwürdig angenehm. Ich beugte mich vor – sie war klein, kaum
eins sechzig – und legte eine Hand hinter mein Ohr. »Was?« sagte ich.
Sie lachte, erhob sich auf die Zehenspitze, reckte ihr Gesicht dicht vor meines. Parfüm. Heiß donnerndes Flüstern an meiner Wange.
Ich faßte ihr Handgelenk. »Zu laut hier«, sagte ich ihr ins Ohr. Meine Lippen streiften ihr Haar. »Laß uns nach draußen gehen.«
Sie lachte wieder. »Aber wir sind gerade erst reingekommen«, sagte sie. »Du hast gesagt, du frierst.«
Hmnn, dachte ich. Ihre blassen, gelangweilten Augen beobachteten mich mit einer Art vertrauter Belustigung in dem faden Licht.
»Irgendwohin, wo es stiller ist, meine ich«, sagte ich.
Sie schaute mich an. »Dein Zimmer oder meins?«
»Deins«, sagte ich, ohne einen Augenblick zu zögern.
Sie war ein gutes Mädchen, ein guter Kumpel. Niedliches Glucksen im Dunkeln, ihr Haar, das mir ins Gesicht fiel, ein komisches kleines Stocken in ihrem Atem, wie bei den Mädchen damals auf der High School. Das warme Gefühl eines Körpers in meinen Armen war etwas, das ich fast
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